Grenzspiele: Der Einsatz ist dein Leben - Neunkircher veröffentlicht Comic über Flucht

Tobias Bolli | 
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Es sind harte Schicksale, die in Patrick Oberholzers Comicsachbuch beschrieben werden. Doch schreckt man nicht zurück, sondern will mehr über sie erfahren; der in Neunkirch geborene Illustrator versteht es, mit seiner Kunst zu fesseln und zur Empathie zu überreden.

Eine verschreckt sich umblickende Frau, Stacheldrähte, von Scheinwerfern erfasste Menschen. Gleich wird die Grenzwache das Feuer auf sie eröffnen! Hastig erklettern die Menschen einen Hang und suchen Deckung im Dunkel dieser Winternacht. Einige von ihnen werden im Schnee liegen bleiben.

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Das Cover von Patrick Oberholzers neuem Sachcomic «Games» ist harte Kost, bereitet damit gut auf das ganze Buch vor. Düstere, deprimierende, teils grausame Szenen hat er darin verarbeitet. Verflogen ist die unbekümmerte Lebenslust, die der selbständige Illustrator seinen Sommerbriefmarken für die Post eingehaucht hat. Stattdessen dominieren Missbrauch und Gewalt. Über allem schwebt immerhin auch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Buch erzählt die Geschichten von Flüchtlingen aus Afghanistan, mit Text und Bild beleuchtet es ihre Reise über viele Zwischenstationen bis in die Schweiz.

Der Vorzug der Künstlichkeit

Für die Bebilderung und Nacherzählung hat sich der in Neunkirch geborene Autor mit Menschen aus der Region unterhalten und ihre Schicksale ungeschönt darzustellen versucht. Trotzdem ertappt man sich immer wieder dabei, die Zeichnungen interessant, ansprechend, ja schön zu finden, obschon das Dargestellte in keiner Weise erhebend ist. So wird man durch die Anziehungskraft der Bilder gleichsam in das Geschehen hineingelockt und kann sich auf die Menschen und ihre Schicksale einlassen. Eine Bebilderung mit Fotos wäre für die meisten Leserinnen wahrscheinlich zu viel und würde unsere Empathiefähigkeit überstrapazieren. Es braucht den Umweg über die Kunst.

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Oberholzer schreckt trotz der ernsten Thematik nicht vor übertreibenden Effekten zurück. Eine Faust, die im Begriff ist, auf die eigene Ehefrau niederzufahren, bringt die Bildelemente durcheinander und nimmt gewaltig vergrössert die halbe Seite in Anspruch; das Motorrad eines Taliban macht in dicken Lettern «RRRRR», während der bärtige Fahrer die Hand ausstreckt, um ein Kind zu entführen. Natürlich verfremden und verzerren solche Stilmittel; aber wiederum ist es gerade diese Künstlichkeit, die eine begehbare Brücke spannt zwischen uns und den Menschen, deren Schicksal ansonsten zu tragisch, zu brutal, uns fern geblieben wäre.

Zur Person

Patrick Oberholzer, selbstständiger Illustrator Patrick Oberholzer wurde 1991 in Neunkirch geboren. Mit 15 Jahren gewann er für seinen Kurzcomic den Publikumspreis des internationalen Comic-Festivals Luzern «Fumetto». Heute lebt er in Winterthur.

 

Der Buchtitel «Games» verweist auf eine von den Flüchtlingen selbst gebrauchte Bezeichnung für die Versuche, es irgendwie lebend über die Grenze zu schaffen. «Man kann ein Game gewinnen, aber auch verlieren», wird eine aus Afghanistan stammende Frau zitiert. Fünf Afghanen lässt Oberholzer in seinem Comic zu Wort kommen. Man erfährt von Muhammed, dessen Onkel und Grossmutter von den Taliban getötet wurden. Als bei einem Selbstmordanschlag ein weiterer Verwandter ums Leben kommt, entschliesst sich die ganze Familie zur Flucht. Oder man fährt mit Hamid durch eine im Iran sich dehnende Kieswüste. In einem Viersitzer, der neben ihm noch vierzehn weitere Personen befördert.

Nachgefragt: Zeichnen, was zwischen den Zeilen steht

Vor zwei Jahren waren es noch Lebensfreude versprühende Briefmarken. Für das Comicsachbuch haben Sie sich für ein eher deprimierendes Thema mit düsteren Sujets entschieden. Warum?

Patrick Oberholzer: Das ist so – die Illustrationen, die ich in meinem Berufsalltag gestalte, sollen in der Regel Leichtigkeit vermitteln und positive Emotionen wecken. Vielleicht war das mit ein Grund für die Wahl dieser eher düsteren Thematik. Ich habe nach einem Thema mit grossem Aktualitätsbezug gesucht und wollte es aus einer neuen Perspektive beleuchten. Es war eine extrem spannende Erfahrung, zwei Jahre lang in dieses komplexe Thema einzutauchen.

Wie macht man ein Comicsachbuch über ein derart anspruchsvolles Thema?

Viel Recherche und dann wild drauflos zeichnen. Der Autor spricht im Interview über den streckenweise auch mal holprigen kreativen Prozess.

Wie haben Sie es geschafft, sich derart tief in die Situation der Geflüchteten hineinzudenken und hineinzufühlen? Blosse Fakten und nüchterne Schilderungen genügen ja wohl nicht, um eine solch emotional aufgeladene Bilderwelt zu schaffen …

Die Interviews, die ich mit den Geflüchteten führte, waren sehr aufwühlend – für mich und für sie. Viele von ihnen haben schlimme Dinge erlebt, die sie auch heute noch in Gedanken bei sich tragen. Es war oft schwierig, zu entscheiden, wie ausführlich man diese belastenden Erinnerungen bespricht – und wie detailliert oder abstrakt man diese danach abbilden soll. Die Bildwelt in dieser Comicdoku ist am Schluss eine Fusion aus den Bildern, die diese Erzählungen in mir hervorgerufen haben, und einer umfangreichen Bildrecherche. Diese Recherche war wichtig, um diese Welt glaubhaft darstellen zu können. Meine Entwürfe habe ich mit den Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder besprochen und zusammen mit ihnen weiterentwickelt.

Inwiefern haben Sie Ihre Bildsprache für diese Thematik anpassen müssen?

Als Illustrator gestalte ich meist Einzelsujets, da bin ich sehr frei in der Gestaltung. In einer Graphic Novel ist das anders – der Bildstil sollte da über einhundert Seiten konsistent bleiben. Das war nicht einfach. Besonders, weil ich die Seiten wild durcheinander gezeichnet habe: Seite 1 war, glaube ich, eine der letzten, die ich gestaltet habe.

Worin besteht der «Mehrwert» solcher Abbildungen im Vergleich zu einem blossen Text?

Mein Ziel war es, dieser düsteren, komplexen Thematik gerecht zu werden, sie aber gleichzeitig für die Leserinnen und Leser attraktiv und leicht verständlich aufzubereiten. Die Bilder sollen Lust machen, sich auf das Thema einzulassen. Und sie sollen das ergänzen, was nur zwischen den Zeilen steht. Die vielen Überschneidungen von Illustrationen, Comicsequenzen, Erzähltexten und Infografiken im Buch waren auch ein bisschen ein Experiment. Und etwas, was diese Arbeit für mich spannend und lehrreich gemacht hat.

Was haben Sie bei der Kreation dieses Buchs dazugelernt?

Für mich war dieses Projekt eine extrem spannende Herausforderung. Ich habe Interviews geführt, neue Menschen kennengelernt, viel zum Thema gelesen und recherchiert, skizziert und gezeichnet. Die zahlreichen persönlichen Begegnungen mit den Menschen waren inspirierend. Es ist wirklich beeindruckend, wie sie innert kürzester Zeit die Sprache gelernt und sich hier ein neues Leben aufgebaut haben. Ich muss ehrlich sagen, dass ich den Aufwand, eine solche Graphic Novel herauszugeben, unterschätzt habe. Die ganze Recherche, die Vorbereitungen, das Planen der Seiten und das Schreiben der Texte hat bestimmt gleich viel Zeit beansprucht wie die Gestaltung. In dieser Zeit gab es viele Hoch- und Tiefpunkte. Das ist bei längeren Projekten wohl normal – aber die Erkenntnis, dass man diese Tiefpunkte überwinden kann, ist doch eine gute Erfahrung. Jetzt kommt der schönste Teil – endlich kann ich das fertige Buch in meinen eigenen Händen halten.

Interview: Tobias Bolli

Zwischen den Menschenschicksalen finden sich Seiten, die den übergreifenden Kontext der Flüchtlingsproblematik beschreiben. Der Autor hat viel Fleiss auf Recherchen verwendet. Selbst gezeichnete Infografiken und grosszügige Texte klären über das Milliardengeschäft der Schlepper auf, über die kriminellen Strippenzieher und deren Helfer, welche die teure Flucht erst möglich machen (4000 bis 6000 ​Franken kostet ein «Ticket» von Afghanistan bis nach Europa, ein Vermögen für die meisten Afghanen).

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Oberholzer zeichnet beliebte Fluchtrouten nach und informiert über das Leben im Iran und in der Türkei – beide Länder dienen den afghanischen Flüchtlingen oft als Zwischenstationen. So erhält die Leserschaft Einblick nicht nur in persönliche Schicksale, sondern wird auch recht umfassend über den Tatsachenhintergrund dieser Geschichten informiert. Immer wieder drängt sich dabei die Frage auf, wie sich das System von seinen zynischen Anreizen befreien und menschenwürdiger gestalten liesse. Kurz: Dem jungen Illustrator ist mit seinem Debüt-Comicsachbuch ein reifes, berührendes und zum Nachdenken anregendes Werk gelungen.



Patrick Oberholzer: «Games», Splitter-Verlag 2023, 102 ​Seiten, ab 26.40 Fr.

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