Introvertierte Menschen im Arbeitsalltag – was lässt sie aufblühen?

Iris Fontana | 
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Introvertierte haben meist ganz andere Bedürfnisse an ihr Arbeitsumfeld, als sie heute im Trend liegen. Bild: Pixabay

In einer Welt, die von extrovertierten Persönlichkeiten und lauten Stimmen dominiert wird, stellt sich die Frage: Wie werden introvertierte Menschen in der Arbeitswelt gehört? Ein Gespräch mit Nina Suter, Expertin für Personalmanagement, über Verschiedenartigkeit, die Zusammensetzung effektiver Teams und darüber, welchen Rahmen introvertierte Mitarbeitende brauchen, um erfolgreich zu sein.

Frau Suter, Sie sind in Personalmanagement ausgebildet und bringen langjährige Erfahrung in diesem Bereich mit. Was braucht es, damit ein Team gut funktioniert?

Suter: Aus meiner Erfahrung sind Schlüsselelemente wie etwa klare Kommunikation, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit wichtig für ein gutes Team (weitere Ausführungen siehe Box, Anm. d. Red.). Gelingt es einem Team, diese Punkte im Berufsalltag zu leben, spürt man das – durch positive Energie, gegenseitigen Respekt und meist auch durch einen gesunden Humor.

Acht Schlüsselelemente für den Teamerfolg

Klare Kommunikation: Offene und ehrliche Kommunikation ist das Herzstück eines erfolgreichen Teams. Sie fördert den Austausch von Ideen, erlaubt wertvolles Feedback und das Ansprechen von Problemen.

Gemeinsame Ziele: Ein klares gemeinsames Ziel sorgt dafür, dass alle Teammitglieder in die gleiche Richtung arbeiten und eine gemeinsame Vision teilen. Das motiviert unheimlich.

Vertrauen und Respekt: Teammitglieder sollten gegenseitiges Vertrauen und Respekt entwickeln können, um eine unterstützende und inklusive Umgebung zu schaffen.

Vielfältige Fähigkeiten: Unterschiedliche Erfahrungen, Ausbildungen, Interessen und Perspektiven tragen dazu bei, dass das Team innovative Lösungen entwickelt und fundierte Entscheide fällt.

Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Ein gutes Team ist bereit, sich an neue Herausforderungen anzupassen und flexibel zu reagieren.

Verantwortung: Jedes Teammitglied ist für seine eigenen Aufgaben und auch für das Team als Ganzes verantwortlich.

Zusammenhalt: Teammitglieder unterstützen sich gegenseitig und feiern gemeinsame Erfolge.

Positive Arbeitskultur: Eine angenehme und ermutigende Arbeitsatmosphäre fördert das Wohlbefinden und die Motivation des gesamten Teams.

In unserer westlichen Welt gilt oft: Je lauter und sichtbarer, desto besser. Andere, beispielsweise asiatische Kulturen, haben ganz andere Werte.

Suter: Ja, Kultur lebt von unterschiedlichen Werten, die uns beim Heranwachsen prägen. Genauso formt uns die Kultur, die wir im Berufsleben erfahren. Die im Unternehmen vorherrschende Kultur ist quasi die «Seele» des Betriebs. Gerade deshalb ist eine Auseinandersetzung mit ihr das A und O, um das menschliche Miteinander und damit auch den Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten.

Wie stellt ein Unternehmen sicher, dass diese Auseinandersetzung mit der Unternehmenskultur stattfindet?

Suter: Die Kultur in einem Unternehmen wird durch ihre Führungskräfte gestaltet. Sie sind quasi die «Gralshüter» der in der Firma gelebten Werte und deshalb in der Verantwortung, ihre Mitarbeitenden in deren Sinn zu unterstützen und zu fördern. Dazu müssen die Führungskräfte ihre Mitarbeitenden mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Wünschen und Bedürfnissen genau kennen, wozu eine Kultur des Vertrauens Voraussetzung ist. Kein Teammitglied darf Angst haben, für das Äussern von Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehlern bestraft oder gedemütigt zu werden. Diese Sicherheit – in der Fachsprache «Psychological Safety» genannt – zu etablieren, ist sehr anspruchsvoll, braucht Zeit und Leidenschaft und muss authentisch sein. Die Führungskraft muss als Vorbild vorangehen. Fühlen sich die Mitarbeitenden sicher, wirkt dies als Hebeleffekt und fördert nicht nur die Zusammenarbeit, sondern auch die Kreativität, Innovation und die persönliche Entwicklung im Team.

Nina Suter

Nina Suter

Nach ihrem Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen folgte die gebürtige Schaffhauserin ihrer Begeisterung fürs Human Resources Management und war während mehr als 15 Jahren in verschiedenen Unternehmen und Branchen im Personalbereich tätig. 2023 wechselte sie zur Schaffhauser RBU Unternehmensberatung, wo sie nun ihre gesammelten Erfahrungen als Beraterin in den Bereichen Human Resources, Organisationsentwicklung oder als Coach in die Arbeit mit ihrer Kundschaft einfliessen lässt.
Suter lebt mit ihrer Familie in Schaffhausen.

Ein Unterscheidungskriterium bezüglich der Persönlichkeit von Mitarbeitenden ist die Einteilung in Introvertierte und Extrovertierte. Dabei wird oft erklärt, dass es Introvertierten in unserer Gesellschaft schwerer fällt, im Unternehmen Erfolg zu haben, da ihre Persönlichkeit nicht dem Ideal heute gefragter Fähigkeiten entspricht. Was ist Ihre Erfahrung?

Suter: Wie bei anderen Persönlichkeitseigenschaften auch brauchen Unternehmen verschiedenste Typen von Mitarbeitenden, um erfolgreich zu sein. Es ist eben genau das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Ausprägungen und damit verbunden der verschiedenen Stärken, die eine Ganzheitlichkeit ermöglichen und zum Erfolg führen. Zudem ist das Ganze ja auch nicht schwarz-weiss. Es gibt nicht «den» Introvertierten und «den» Extrovertierten, jeder Mensch befindet sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Je nach Unternehmenskultur und Umfeld kann die jeweilige Persönlichkeitseigenschaft ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Die Herausforderung besteht darin, mit den Unterschiedlichkeiten gut umzugehen.

Welche besonderen Stärken bringen Menschen mit grösseren introvertierten Persönlichkeitsanteilen ins Team ein?

Suter: Introvertierte Menschen sind oft sorgfältige Planer, genaue Beobachter, geduldige Schaffer und denken etwas lieber mehrmals und gründlich durch, bevor sie es angehen. Dabei fokussieren sie sich gerne über einen längeren Zeitraum auf eine bestimmte Sache und sind keine Liebhaber von Zeitdruck und Spontanität. Aber wie bereits betont: Die Ausprägungen von Introvertiertheit sind immer individuell und es ist deshalb wichtig, genau hinzuschauen und jede Person wirklich kennenzulernen. Unterlässt man dies, läuft man Gefahr, sich kontraproduktiv zu verhalten, da sich die Bedürfnisse von Introvertierten stark unterscheiden können.

Branchen, in denen sich Introvertierte oft wohlfühlen

Introvertierte Menschen zeichnen sich oft durch tiefgehendes Denken, hohe Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und einen ausgeprägten Sinn für Details aus – Fähigkeiten, die in vielen Berufsfeldern besonders geschätzt werden. In der Wissenschaft und Forschung können sie ihre Stärke für analytisches, fokussiertes Arbeiten gezielt einsetzen. Auch in der IT, wo komplexe Problemstellungen oft lange konzentrierte Arbeitsphasen erfordern, kommen ihre Talente optimal zur Geltung. Gleichzeitig sind kreative Berufe wie Schriftsteller, Designer oder Künstler ideal, da diese häufig in ruhigen, selbstbestimmten Arbeitsumgebungen stattfinden und Raum für individuelle Entfaltung bieten. Zudem sind Introvertierte oft sehr einfühlsam, was sie für Berufe im Gesundheitswesen prädestiniert, in denen Empathie und genaues Zuhören essenziell sind.

Dabei ist Suter jedoch wichtig, möglichst wenig zu schubladisieren, weil auch jeder introvertierte Mensch individuell ist und seine Stärken und Vorlieben in ganz unterschiedlichen Bereichen liegen können. Genau diese Stärken zu erkennen und in einem Beruf ausleben zu können, ist ihrer Ansicht nach der Schlüssel zur Zufriedenheit.

Gibt es typische Herausforderungen, die introvertierte Personen im Büroalltag erleben?

Suter: Für Introvertierte sind der Büroalltag oder Meetings, die mit zahlreichen sozialen Interaktionen, Lärm und vielen visuellen Eindrücken verbunden sind, oft anstrengend und unangenehm. Der gegenwärtige Trend von offener Büroumgebung, spontanem Austausch, Team-Agilität und aktuellen Methoden zur Innovationsförderung steht konträr zu ihren Bedürfnissen und untergräbt ihre Stärken und Kompetenzen, womit viel wertvoller Input verloren geht. In Meetings mit hohem Tempo und Zeitdruck fällt es introvertierten Menschen zudem oft schwer, ihre gut durchdachten Ideen kurz und prägnant zu vermitteln. Besonders in Diskussionen mit sehr dominanten Gesprächspartnern kann es für sie äusserst herausfordernd sein, sich Gehör zu verschaffen und die eigene Perspektive einzubringen. Zudem fühlen sich Introvertierte häufig unter Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden, die nicht ihrem Naturell entsprechen – eine Belastung, die in ihnen schnell ein Gefühl von Überforderung hervorruft.

«Wenn du nicht weiss, was ein Extrovertierter denkt, hast du nicht zugehört.
Wenn du nicht weisst, was ein Introvertierter denkt, hast du nicht nachgefragt.»

Jack Falt

Wie können Führungskräfte hier unterstützen?

Suter:
Zentral ist eine bewusste Kommunikation. Ausserdem hilft es Introvertierten stark, wenn sie ihren Beitrag schriftlich abgeben können – sei dies klassisch mit Zetteln an einer Wand, mithilfe eines digitalen Tools, mit einer schriftlichen Umfrage oder wenn Ideen per E-Mail eingereicht werden. Dies gibt jedem Teammitglied die Möglichkeit, Zeit und Umgebung für die Rückantwort seinen Bedürfnissen gemäss zu wählen, da es Introvertierten wichtig ist, genügend Zeit zum Nachdenken und Vorbereiten zu haben. Hilfreich ist auch, wenn die Rollen und Aufgaben innerhalb einer Gruppe klar verteilt und die Verantwortlichkeiten genau geregelt sind. Zusätzlich sind regelmässige, geplante Einzelgespräche zwischen der Führungskraft und ihren Mitarbeitenden äusserst wertvoll für den persönlichen Austausch und können verschiedensten Input zutage fördern. Überdurchschnittlich oft brauchen Introvertierte Ermutigung. Raumtechnisch sind Rückzugsorte wichtig, also zum Beispiel die Einrichtung eines «Fokusraums», in dem konzentriert und ungestört gearbeitet werden kann.
Mein Rat: Mutig ausprobieren und schauen, was ankommt und positiv wirkt.

Weiterführende Tipps

Moderation und Ermutigung zur Teilnahme: Führungskräfte sollten Meetings ganz bewusst so moderieren, dass jeder und jede zu Wort kommen kann. Introvertierte Mitarbeitende können beispielsweise aktiv ermutigt werden, ihre Meinung zu äussern. Wichtig ist aber, dass sie zu nichts gedrängt, sondern unterstützt werden.

Gemeinsame Gestaltung von Meetings oder Workshops: Durch das Einbinden einer oder mehrerer introvertierter Mitarbeitenden in die Gestaltung kann von Anfang an auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen und das Setting besser zugeschnitten werden. Möglicherweise ergeben sich dadurch auch kreativere und effektivere Lösungen.

Kleine Gruppen: Meetings und Diskussionen in kleineren Gruppen, in denen sich jeder wohlfühlt, erleichtern es oft, introvertierte Stimmen zu hören.

Mentoren-Programm: Mitarbeitende können ganz bewusst mit einem Mentor an der Seite unterstützt werden, um von dessen Wissen und Erfahrungen zu profitieren.

Schriftliche Kommunikation: Ideen und Feedback sollten schriftlich geäussert werden können. Das nimmt den Druck von spontanen Antworten und gibt den Introvertierten die Gelegenheit, ihre Gedanken sorgfältig zu formulieren. Umgesetzt werden kann dies klassisch in Form einer Wand mit Post-its oder auch online mit einem Board, einer Umfrage, einem kollaborativen Dokument oder Ähnlichem.

Zeit zum Nachdenken und Vorbereiten: Nicht jeder grossartige Gedanke kommt spontan. Jeweils etwas Zeit zum Nachdenken einzuplanen, hilft insbesondere Introvertierten, ihre Meinungen zu reflektieren und dann dezidiert zu äussern. Ebenso sollte auch Zeit für die Vorbereitung von Meetings und Workshops einberechnet werden.

Einzelgespräche: Introvertierte Menschen neigen dazu, ihre Gedanken und Ideen eher in Einzelgesprächen zu teilen als in grossen Meetings. Deshalb lohnt es sich, Einzelgespräche regelmässig und angekündigt durchzuführen.

Anerkennung: Ehrliches Lob und Anerkennung in kleinen Kreisen oder Feedbackrunden können Wunder bewirken.

Ruhige Räume: Besonders in einer offenen Bürostruktur schätzen introvertierte Mitarbeitende Rückzugsmöglichkeiten, um ungestört arbeiten zu können.

Suters Meinung nach sind diese Ansätze nicht nur im Umgang mit introvertierten Mitarbeitenden sinnvoll. Sie können auch in anderen Situationen hilfreich und unterstützend sein. Bei allen Vorschlägen sollen immer die Bedürfnisse der Mitarbeitenden im Mittelpunkt stehen.

Haben Sie selbst Erfahrungen mit introvertierten Mitarbeitenden gemacht, die durch gezielte Massnahmen aufblühen konnten?

Suter: Ja, ich begleitete einst eine junge Frau, die in ihrem Fachgebiet herausragende Fähigkeiten besass und in ihrer Expertenrolle sehr angesehen war. Glücklicherweise bemerkte ihr Umfeld ihre Begabung und bot ihr an, eine Führungsfunktion zu übernehmen. Ich durfte die Frau in diesem Prozess von Personalseite aus unterstützen. Die Frau äusserte viele Überlegungen wie: Traue ich mir selbst diese Rolle zu? Ist das ein Umfeld, in dem es mir wohl ist? Getraue ich mich, als Vorgesetzte zu agieren? Im Gegensatz zu ihr selbst hatte ihr Umfeld nie Zweifel an ihren Fähigkeiten dazu. Die Situation war ambivalent. Der Durchbruch kam, als wir einen Mentor für sie fanden. Durch den Austausch mit ihm fühlte sie sich abgeholt und verstanden, da er ähnliche Erfahrungen wie sie hinter sich hatte. Dieses «Verstandenfühlen» und die Ermutigung, wie auch die Möglichkeit, in ihm einen Sparringspartner bei Vorbereitungen und Fragen zu haben, wirkten völlig befreiend. Die Frau musste nicht ihr Wesen ändern oder sich verbiegen. Sie brauchte lediglich ein Setting, das ihr half, sich sicher zu fühlen.

Was hilft im Erkennen verschiedener Persönlichkeitsstrukturen?

Suter: Für einen professionellen Einblick in die Persönlichkeit arbeite ich sehr gerne mit dem Analyse- und Entwicklungstool von LINC. Dieses Online-Tool ermöglicht eine umfassende, ganzheitliche Erfassung und Beschreibung der menschlichen Persönlichkeit und bietet damit zahlreiche spannende Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung. Diese Entwicklung kann dann auf individueller Ebene erfolgen, beispielsweise in einem Coaching oder auch mit einem gesamten Team im Rahmen einer Teamentwicklung. Ein Team lernt sich auf diese Weise viel besser kennen. Neben der persönlichen Einordnung helfen die anschaulichen Resultate, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen, hinsichtlich der Vielfalt zu sensibilisieren sowie auch Missverständnisse im Team anzuschauen.
In unseren Workshops stellen wir als Nächstes Überlegungen an, wie diese Erkenntnisse das Team effektiver machen können, also beispielsweise wie man die Stärken von Introvertierten mit denjenigen von Extrovertierten kombinieren kann. Und natürlich geht es auch darum, zusammen ein Zielbild für das Team zu entwickeln. Mit all diesen Rückmeldungen können wir zusammen in die Gestaltung und Entwicklung von Veränderungen gehen. Das gemeinsame Erarbeiten als Team setzt dabei eine verbindende Dynamik und ein grosses Zusammengehörigkeitsgefühl frei.

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Kommentare (1)

Johannes Ermatinger Fr 07.02.2025 - 16:12

Sehr spannendes und differentiertes Interview zu einem wichtigen Thema des Managements und der Führungsarbeit. Chapeau!

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