Introvertierte Menschen im Arbeitsalltag – was lässt sie aufblühen?

In einer Welt, die von extrovertierten Persönlichkeiten und lauten Stimmen dominiert wird, stellt sich die Frage: Wie werden introvertierte Menschen in der Arbeitswelt gehört? Ein Gespräch mit Nina Suter, Expertin für Personalmanagement, über Verschiedenartigkeit, die Zusammensetzung effektiver Teams und darüber, welchen Rahmen introvertierte Mitarbeitende brauchen, um erfolgreich zu sein.
Frau Suter, Sie sind in Personalmanagement ausgebildet und bringen langjährige Erfahrung in diesem Bereich mit. Was braucht es, damit ein Team gut funktioniert?
Suter: Aus meiner Erfahrung sind Schlüsselelemente wie etwa klare Kommunikation, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit wichtig für ein gutes Team (weitere Ausführungen siehe Box, Anm. d. Red.). Gelingt es einem Team, diese Punkte im Berufsalltag zu leben, spürt man das – durch positive Energie, gegenseitigen Respekt und meist auch durch einen gesunden Humor.
In unserer westlichen Welt gilt oft: Je lauter und sichtbarer, desto besser. Andere, beispielsweise asiatische Kulturen, haben ganz andere Werte.
Suter: Ja, Kultur lebt von unterschiedlichen Werten, die uns beim Heranwachsen prägen. Genauso formt uns die Kultur, die wir im Berufsleben erfahren. Die im Unternehmen vorherrschende Kultur ist quasi die «Seele» des Betriebs. Gerade deshalb ist eine Auseinandersetzung mit ihr das A und O, um das menschliche Miteinander und damit auch den Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten.
Wie stellt ein Unternehmen sicher, dass diese Auseinandersetzung mit der Unternehmenskultur stattfindet?
Suter: Die Kultur in einem Unternehmen wird durch ihre Führungskräfte gestaltet. Sie sind quasi die «Gralshüter» der in der Firma gelebten Werte und deshalb in der Verantwortung, ihre Mitarbeitenden in deren Sinn zu unterstützen und zu fördern. Dazu müssen die Führungskräfte ihre Mitarbeitenden mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Wünschen und Bedürfnissen genau kennen, wozu eine Kultur des Vertrauens Voraussetzung ist. Kein Teammitglied darf Angst haben, für das Äussern von Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehlern bestraft oder gedemütigt zu werden. Diese Sicherheit – in der Fachsprache «Psychological Safety» genannt – zu etablieren, ist sehr anspruchsvoll, braucht Zeit und Leidenschaft und muss authentisch sein. Die Führungskraft muss als Vorbild vorangehen. Fühlen sich die Mitarbeitenden sicher, wirkt dies als Hebeleffekt und fördert nicht nur die Zusammenarbeit, sondern auch die Kreativität, Innovation und die persönliche Entwicklung im Team.
Ein Unterscheidungskriterium bezüglich der Persönlichkeit von Mitarbeitenden ist die Einteilung in Introvertierte und Extrovertierte. Dabei wird oft erklärt, dass es Introvertierten in unserer Gesellschaft schwerer fällt, im Unternehmen Erfolg zu haben, da ihre Persönlichkeit nicht dem Ideal heute gefragter Fähigkeiten entspricht. Was ist Ihre Erfahrung?
Suter: Wie bei anderen Persönlichkeitseigenschaften auch brauchen Unternehmen verschiedenste Typen von Mitarbeitenden, um erfolgreich zu sein. Es ist eben genau das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Ausprägungen und damit verbunden der verschiedenen Stärken, die eine Ganzheitlichkeit ermöglichen und zum Erfolg führen. Zudem ist das Ganze ja auch nicht schwarz-weiss. Es gibt nicht «den» Introvertierten und «den» Extrovertierten, jeder Mensch befindet sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Je nach Unternehmenskultur und Umfeld kann die jeweilige Persönlichkeitseigenschaft ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Die Herausforderung besteht darin, mit den Unterschiedlichkeiten gut umzugehen.
Welche besonderen Stärken bringen Menschen mit grösseren introvertierten Persönlichkeitsanteilen ins Team ein?
Suter: Introvertierte Menschen sind oft sorgfältige Planer, genaue Beobachter, geduldige Schaffer und denken etwas lieber mehrmals und gründlich durch, bevor sie es angehen. Dabei fokussieren sie sich gerne über einen längeren Zeitraum auf eine bestimmte Sache und sind keine Liebhaber von Zeitdruck und Spontanität. Aber wie bereits betont: Die Ausprägungen von Introvertiertheit sind immer individuell und es ist deshalb wichtig, genau hinzuschauen und jede Person wirklich kennenzulernen. Unterlässt man dies, läuft man Gefahr, sich kontraproduktiv zu verhalten, da sich die Bedürfnisse von Introvertierten stark unterscheiden können.
Gibt es typische Herausforderungen, die introvertierte Personen im Büroalltag erleben?
Suter: Für Introvertierte sind der Büroalltag oder Meetings, die mit zahlreichen sozialen Interaktionen, Lärm und vielen visuellen Eindrücken verbunden sind, oft anstrengend und unangenehm. Der gegenwärtige Trend von offener Büroumgebung, spontanem Austausch, Team-Agilität und aktuellen Methoden zur Innovationsförderung steht konträr zu ihren Bedürfnissen und untergräbt ihre Stärken und Kompetenzen, womit viel wertvoller Input verloren geht. In Meetings mit hohem Tempo und Zeitdruck fällt es introvertierten Menschen zudem oft schwer, ihre gut durchdachten Ideen kurz und prägnant zu vermitteln. Besonders in Diskussionen mit sehr dominanten Gesprächspartnern kann es für sie äusserst herausfordernd sein, sich Gehör zu verschaffen und die eigene Perspektive einzubringen. Zudem fühlen sich Introvertierte häufig unter Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden, die nicht ihrem Naturell entsprechen – eine Belastung, die in ihnen schnell ein Gefühl von Überforderung hervorruft.
«Wenn du nicht weiss, was ein Extrovertierter denkt, hast du nicht zugehört.
Wenn du nicht weisst, was ein Introvertierter denkt, hast du nicht nachgefragt.»
Wie können Führungskräfte hier unterstützen?
Suter: Zentral ist eine bewusste Kommunikation. Ausserdem hilft es Introvertierten stark, wenn sie ihren Beitrag schriftlich abgeben können – sei dies klassisch mit Zetteln an einer Wand, mithilfe eines digitalen Tools, mit einer schriftlichen Umfrage oder wenn Ideen per E-Mail eingereicht werden. Dies gibt jedem Teammitglied die Möglichkeit, Zeit und Umgebung für die Rückantwort seinen Bedürfnissen gemäss zu wählen, da es Introvertierten wichtig ist, genügend Zeit zum Nachdenken und Vorbereiten zu haben. Hilfreich ist auch, wenn die Rollen und Aufgaben innerhalb einer Gruppe klar verteilt und die Verantwortlichkeiten genau geregelt sind. Zusätzlich sind regelmässige, geplante Einzelgespräche zwischen der Führungskraft und ihren Mitarbeitenden äusserst wertvoll für den persönlichen Austausch und können verschiedensten Input zutage fördern. Überdurchschnittlich oft brauchen Introvertierte Ermutigung. Raumtechnisch sind Rückzugsorte wichtig, also zum Beispiel die Einrichtung eines «Fokusraums», in dem konzentriert und ungestört gearbeitet werden kann.
Mein Rat: Mutig ausprobieren und schauen, was ankommt und positiv wirkt.
Haben Sie selbst Erfahrungen mit introvertierten Mitarbeitenden gemacht, die durch gezielte Massnahmen aufblühen konnten?
Suter: Ja, ich begleitete einst eine junge Frau, die in ihrem Fachgebiet herausragende Fähigkeiten besass und in ihrer Expertenrolle sehr angesehen war. Glücklicherweise bemerkte ihr Umfeld ihre Begabung und bot ihr an, eine Führungsfunktion zu übernehmen. Ich durfte die Frau in diesem Prozess von Personalseite aus unterstützen. Die Frau äusserte viele Überlegungen wie: Traue ich mir selbst diese Rolle zu? Ist das ein Umfeld, in dem es mir wohl ist? Getraue ich mich, als Vorgesetzte zu agieren? Im Gegensatz zu ihr selbst hatte ihr Umfeld nie Zweifel an ihren Fähigkeiten dazu. Die Situation war ambivalent. Der Durchbruch kam, als wir einen Mentor für sie fanden. Durch den Austausch mit ihm fühlte sie sich abgeholt und verstanden, da er ähnliche Erfahrungen wie sie hinter sich hatte. Dieses «Verstandenfühlen» und die Ermutigung, wie auch die Möglichkeit, in ihm einen Sparringspartner bei Vorbereitungen und Fragen zu haben, wirkten völlig befreiend. Die Frau musste nicht ihr Wesen ändern oder sich verbiegen. Sie brauchte lediglich ein Setting, das ihr half, sich sicher zu fühlen.