Mehr Gesundheit durch Zusammenarbeit: Der Ansatz von docSH

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Arie Späth, Geschäftsstellenleiter docSH. Bild: zVg

Der Geschäftsstellenleiter des Vereins docSH, Arie Späth, erzählt, wie nicht ärztliche Fachpersonen den Hausärztemangel auffangen können, wohin die Patienten und Patientinnen bei Erstkonsultationen hingehen sollen und warum die Behandlungen künftig zu Hause stattfinden könnten.

von Vincent Fluck

Herr, Späth, die Hausarztmedizin ist unter Druck und es fehlt an Nachwuchs. Der Verein docSH engagiert sich, um Lösungsansätze dafür zu etablieren. Einer davon ist, mit nicht ärztlichen Fachpersonen eine Entlastung zu bewirken. Von welchen Fachpersonen reden wir da?

Arie Späth: Das sind zum Beispiel Medizinische Praxiskoordinatorinnen, kurz: MPK. Das ist eine Weiterbildung für Medizinische Praxisassistentinnen. Dank dieser Weiterbildung können sie Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Asthma oder Rheuma selbstständig beraten und betreuen. Das ist wichtig, weil Hausärztinnen und Hausärzte ihre chronisch kranken Patienten wegen der gossen Arbeitslast häufig nicht so umfassend behandeln können, wie sie es gerne würden. Das Problem: Die so erbrachten Dienstleistungen können mit dem heutigen Tarifsystem gar nicht oder nur mangelhaft mit den Krankenkassen abgerechnet werden.

Das soll sich ja beim neuen Tarifsystem Tardoc ändern.

Genau, dieser soll am 1. ​Januar 2026 eingeführt werden. Darin sind die Leistungen, welche die MPKs bei chronisch kranken Patienten ausführen dürfen und der Arzt abrechnen kann, ganz genau umschrieben. Dies entlastet die Hausärzte und verbessert die Betreuung der betroffenen Menschen. Wir hoffen, dass Hausarztpraxen deswegen vermehrt MPKs anstellen oder sich an der Weiterbildung beteiligen.

Was gibt es sonst noch für Berufsgruppen, die die Grundversorgung entlasten können?

Eine zweite wichtige Gruppe sind Pflegefachpersonen mit einem Master-Abschluss, sogenannte Advanced Practice Nurses, kurz APN. Ihre vielfältigen Einsatzmöglichkeiten sind inzwischen gut erprobt: In der Hausarztpraxis können sie eine Erstkonsultation vornehmen und dann entscheiden, ob die Ärztin oder der Arzt überhaupt beigezogen werden muss. Oder sie können im ärztlichen Auftrag Hausbesuche und Nachkontrollen machen. Ebenso ist es denkbar, sie für leichte Notfälle zu Hause einzusetzen. Zudem können sie Ärzte bei der Betreuung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen entlasten. Gemäss dem Institut für Hausarztmedizin der Uni Zürich können bis zu 30 ​Prozent der hausärztlichen Leistungen bei gleicher Qualität durch APN durchgeführt werden.

Wie sieht es mit der Abrechnung über die Krankenkasse aus?

Hier haben wir ähnliche Probleme wie bei den MPKs. Fallweise gibt es zwar Tarife für Leistungen von APN; diese sind aber viel zu tief. Also machen wir uns Gedanken, wo es Lösungen gibt. Die besten Chancen sehen wir bei zeitlich befristeten Pilotprojekten. Denkbar ist zum Beispiel, dass sich Arztpraxen, Pflegeheime oder Spitex-Organisationen eine APN für bestimmte Aufgaben teilen. Dann könnten sich der Kanton, Gemeinden oder Krankenkassen an den Kosten beteiligen. Wir sind überzeugt, dass sich die Behandlung und Betreuung von ausgewählten Patienten auf diesem Weg verbessern lässt, die Ärzteschaft entlastet wird und erst noch Kosten gespart werden können.

Welche Berufsgruppen können sonst noch entlastend wirken?

Ich denke an Ergo- und Physiotherapeuten. Sie haben eine ausgezeichnete Grundausbildung, können sich auf Master-Stufe weiterbilden und erweitern damit ihre Kompetenzen. Auch hier gibt es zahlreiche Modelle, wie sie die Ärzteschaft entlasten können, zum Beispiel das Programm «Besser leben mit COPD*» oder Programme zur Wiedereingliederung von Menschen in den Alltag. Oder man könnte dafür sorgen, dass sie Erstdiagnosen machen dürfen. Zum Beispiel bei einer Muskelzerrung ist es unter Umständen sinnvoller, dass sie die Beurteilung vornehmen, statt der Hausarzt.

Was muss man konkret ändern, damit das so möglich ist?

Es braucht weniger, als man vermuten würde. Die höchste Hürde ist das Geld: Gibt es offizielle Tarife? Wenn ja: Reichen diese aus für die gewünschten Leistungen? Falls nein: Wer profitiert von den Leistungen und könnte interessiert sein, sich an den Kosten zu beteiligen. Das Problem dabei: Die erhofften Effekte wie bessere Behandlungsergebnisse und tiefere Kosten können nicht garantiert werden. Also braucht es viel Überzeugungsarbeit, um mögliche Geldgeber im Voraus zu gewinnen.

Was braucht es sonst noch?

Ein grosses Problem ist heute, dass die einzelnen Berufsgruppen zu wenig wissen, was die anderen können. Folglich macht man auch Sachen, die andere besser könnten. Deshalb ist es ganz wichtig, dass sich die Berufsgruppen untereinander austauschen. Zum Zweiten sind auch die Patientinnen und Patienten gefordert: Sie sollten erkennen und akzeptieren, dass es nicht in jedem Fall eine Ärztin oder einen Arzt braucht. Wir wissen aus Studien, dass die genannten nicht ärztlichen Fachpersonen wie MPK und APN sehr gut ankommen bei den Patienten: Erstens haben sie in der Regel deutlich mehr Zeit als die Ärztin oder der Arzt. Und zweitens sprechen sie offenbar verständlicher, also mit weniger Fremdwörtern.

Eine Berufsgruppe haben wir noch nicht angesprochen: Die Apothekerinnen und Apotheker. Welche Rolle können sie spielen, um die Ärzteschaft zu entlasten?

Tatsächlich haben die Apotheken grosses Potenzial – über die Beratung und Abgabe von Medikamenten hinaus. Sie können bei kleineren Notfällen sowohl Arztpraxen wie das Spital entlasten. Ein zweiter wichtiger Bereich ist die Früherkennung: Mit dem Messen von Blut- und anderen Körperwerten können Apotheken Risikofaktoren für Krankheiten einschätzen und Beratungen für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil anbieten. Selbstverständlich müssen die Kundinnen und Kunden bei Bedarf an eine Arztpraxis überwiesen werden. Ein dritter Bereich sind regelmässige Kontrollen von chronisch kranken Menschen. Auch das Impfen entlastet die Arztpraxen. Die Apotheken zeigen sich sehr innovativ in der Grundversorgung und schaffen es immer wieder, ihre Leistungen über die Krankenkassen verrechnen zu können.

« Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass wir alle Hausärzte, die in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen werden, auch nur ansatzweise ersetzen können. »

Arie Späth, Geschäftsstellenleiter docSH

Welche Anstrengungen unternimmt eigentlich docSH, um eine Entspannung in der Grundversorgung zu bewirken?

Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass wir alle Hausärzte, die in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen werden, auch nur ansatzweise ersetzen können. Dafür studieren schlicht zu wenige junge Leute Medizin und von den Studierenden entscheiden sich dann auch noch viel zu viele für eine andere Richtung als Hausarztmedizin. Zudem ist das Reservoir an ausländischen Ärztinnen und Ärzten irgendwann ausgeschöpft. Darum müssen wir breiter denken. Selbstverständlich versuchen wir weiterhin, Schaffhausen als attraktiven Standort für Hausarztmedizin zu positionieren und angehende Hausärztinnen und Hausärzte zu fördern. Aber wir müssen breiter denken und die Grundversorgung so «umbauen», dass wir weniger Hausärzte brauchen. Hier kann docSH einen wertvollen Beitrag leisten, indem wir neue Behandlungsmodelle zur Diskussion stellen, Pilotprojekte vorantreiben und nach finanziellen Mitteln suchen.

Wir haben über verschiede Akteure geredet, die die medizinische Grundversorgung entlasten könnten. Sehen Sie andere Massnahmen?

Wie schon angetönt, müssen sich die Akteure mehr vernetzen und ihre Leistungen besser aufeinander abstimmen. Heute überwiegt das Silo- oder Gärtlidenken. Das führt zu Doppelspurigkeiten und Fehlbehandlungen und überfordert die Patienten, weil es an Koordination und Absprache mangelt. Wenn man eine Behandlung von Anfang an richtig plant, statt die Patienten von Pontius zu Pilatus zu schicken, braucht man auch weniger Kapazitäten.

Im Grundsatz sind alle damit einverstanden. Aber wie gelingt das konkret?

Ein wichtiger Baustein dafür ist unser Vernetzungsanlass, den wir bereits zweimal durchgeführt haben und zu dem jeweils 65 ​Personen kamen. Da ging es hauptsächlich darum, dass die Vertreter verschiedener Berufsgruppe miteinander reden und merken, dass die anderen ähnliche Probleme haben. Diese Vernetzungsanlässe bereiten mir grosse Freude, denn sie beweisen, dass ein Umdenken der verschiedenen Akteure stattfindet. In Schaffhausen ist es wegen der überschaubaren Grösse so einfach, miteinander zu reden: Machen wir es doch!

Weiter hat sich docSH auf die Fahnen geschrieben, die Vernetzung in allen Bereichen zu fördern. Dazu gehört auch, den Sozialbereich viel näher an den medizinischen Bereich zu bringen. Denn es gibt viele Menschen, die neben körperlichen Krankheiten auch psychische Probleme haben, ebenso soziale: Sie sind einsam oder haben Schulden oder ein Suchtproblem. Es gibt mittlerweile einige Arztpraxen in der Schweiz, in denen eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter tätig ist und bei Bedarf einbezogen wird.

Wer ist denn der «Sozialbereich»?

Dazu gehören zum Beispiel die Sozialdienste der Gemeinden, Angebote des Kantons sowie zahlreiche private Anbieter wie die Pro Senectute oder das Rote Kreuz. Ein sehr gutes Beispiel für die Vernetzung der verschiedenen Bereiche ist die regionale Anlaufstelle REAS Schaffhausen. Hier werden stark belastete Menschen beraten und unterstützt, die mit ihrer Situation überfordert sind. Gemeinsam mit ihnen suchen die Beraterinnen und Berater die besten Lösungen und können bei Bedarf vermitteln und koordinieren. Immer mit dem Ziel, dass die betroffenen Personen baldmöglichst wieder eine Perspektive sehen.

Gibt es noch weitere Massnahmen zur Entlastung der Grundversicherung?

Es ist unbestritten, dass die Menschen auch bei Krankheit am liebsten zu Hause sind. Deshalb wird das Zuhause mehr und mehr zum eigenständigen Gesundheits- oder Behandlungsstandort. Das heisst zum Beispiel, die Physio- oder Ergotherapeuten kommen nach Hause. Oder gewisse Körperwerte können extern überwacht werden. Zudem finden selbst Spitalbehandlungen zu Hause statt: Zuerst kommt das Fachteam vorbei, dann erfolgen die Kontakte telemedizinisch und schliesslich wird an die Spitex übergeben.

Dann ein sehr wichtiges Thema, das in der Schweiz in meinen Augen zu kurz kommt, ist die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Viele sind überfordert mit dem System. Wann muss ich wirklich zum Arzt? Was kann ich tun, damit ich Medikamente korrekt einnehme? Was mache ich, wenn ich das Gefühl habe, die Medikamente bringen nichts? Wie lerne ich, mit einer chronischen Krankheit zu leben? Welche Vorsorgeuntersuchungen bringen etwas? Gibt es eine Selbsthilfegruppe für mein Problem? Wir müssen uns vornehmen, unsere Bevölkerung in diesem Thema viel fitter zu machen. Nächstes Jahr möchten wir dieses Thema in Schaffhausen aufs Parkett bringen. Da sehe ich einen wichtigen Hebel, wie wir unser Gesundheitssystem effizienter gestalten beziehungsweise Fachpersonen entlasten können.

Ist es denkbar, mit digitalen Hilfsmitteln eine Entlastung zu bewirken?

Auf jeden Fall. Aber wie Sie wissen, sind wir in diesem Bereich sehr träge unterwegs, zum Beispiel beim elektronischen Patientendossier. Anderseits gibt es zahlreiche digitale Hilfsmittel, die praxistauglich sind, zum Beispiel ein elektronischer Medikationsplan oder ein elektronischer Impfausweis. Auch hier werden wir versuchen, das eine oder andere Hilfsmittel auf den Weg zu bringen.

Welche Möglichkeiten, dies alles voranzutreiben, haben Sie bei docSH?

Wir sind ein Verein mit einem kleinen Budget. Rennen müssen am Schluss andere. Aber wir können Ideen einbringen und motivieren. Getreu unserem Leitsatz: Vernetzt zu mehr Gesundheit.

In letzter Zeit konnte man viel lesen vom Hausärztemangel im Klettgau. Ist es nicht vorstellbar, dass man für den Arztbesuch in die Stadt geht? Dorthin geht man ja auch fürs Kino oder fürs Theater.

Dass man in jeder Gemeinde einen Hausarzt hat: Diese Zeiten werden nicht mehr zurückkehren. Auch Einzelpraxen wird es immer weniger geben. Die nächste Generation Hausärzte hat ganz andere Ansprüche an die Arbeitsausgestaltung, zum Beispiel was Teilzeitpensen angeht. Darum wird es immer mehr in Richtung moderne Gesundheitszentren gehen. Und ein solches wird es nicht in jeder Gemeinde oder in jedem städtischen Quartier geben. Aber ob man in den Bus steigt und 5 oder 15 ​Minuten fährt, macht in meinen Augen keinen grossen Unterschied.

docSH: «Vernetzt zu mehr Gesundheit»

Der Verein docSH will dazu beitragen, die medizinische Grundversorgung im Kanton Schaffhausen langfristig zu gewährleisten. Seine Anfänge nahm er im Jahr 2015 in einer Projektgruppe unter der Leitung des Vereins für Hausarztmedizin in der Region Schaffhausen (HAV-SH) und der kantonalen Geschäftsstelle der Regional- und Standortentwicklung. Später wurde die Projektgruppe in den neu gegründeten Verein docSH überführt, der 2019 seine Aktivitäten aufnahm. Der Verein besteht aus einem neunköpfigen Vorstand und einer Geschäftsstelle. Leiter der Geschäftsstelle ist Arie Späth, der das Mandat als Co-Geschäftsführer der Marketingagentur kommpass gmbh 2023 übernommen hat.

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