«Hallo, ich bin Jakob und manchmal kann ich nicht gut denken» – wie fühlt es sich an, wenn man ADS hat?

Damiana Mariani | 
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Jakob ist neun Jahre und leidet an ADS. In der Schule fällt es ihm schwer, sich auf den Stoff zu konzentrieren und ihn zu behalten. Bild: Roberta Fele

Im Kindergartenalter wird bei Jakob ADS diagnostiziert, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Zu diesem Zeitpunkt weiss der Junge selbst schon lange, dass etwas mit ihm nicht stimmt.

Jakob blättert durch «Phantomas taucht ab», ein lustiges Taschenbuch von Walt Disney. Drei Seiten, dann legt er es weg. Er mag es nicht. Das sagt er höflich. Er sagt alles höflich. Jakob ist ein schüchterner Junge, sensibel, einfühlsam, hilfsbereit, so beschreibt ihn sein Vater. «Seine Anteilnahme macht ihn bei anderen Kindern beliebt.» Und Jakob nimmt viel wahr. Er spürt, wenn es jemandem nicht gut geht, dann spendet er Trost. Und er spürt, wenn es ihm selbst nicht gut geht. Nur weiss er dann nicht immer, was er mit diesem Gefühl tun soll. Jakob geht es nicht gut, wenn die Welt laut und anstrengend ist. Und das ist sie oft.

Es war die Kindergärtnerin, die Jakobs Vater darauf ansprach, ihn bat, mit Jakob eine psychologische Abklärung zu machen. Jakob sitze im Kindergarten oft abseits, sei in sich gekehrt. Also haben Vater und Sohn einen Psychologen aufgesucht, sind von einem zum anderen gegangen, haben Gespräche geführt. «Und dann hiess es: Jakob hat ADS», sagt Jakobs Vater. Er selbst habe es nicht gemerkt. «Ich dachte: Er ist halt einfach ein Ruhiger. Aber mir ist schon aufgefallen, dass Jakob nie ein Kind war, das konzentriert mit Bauklötzen gespielt hat. Auch nicht mit Superheldenfiguren.»

ADS und Schule

Damals beim Psychologen wusste Jakob bereits, dass bei ihm etwas anders ist. «Ich wusste es früher, vor den Erwachsenen», sagt er und reisst sich ein Stück seines Fingernagels ab. Er trägt einen grünen Minecraft-Pulli. Auf seinem rechten Handgelenk hat er einen abwaschbaren Totenschädel tätowiert, aus dessen Kiefer eine Schlange hängt. «Das ist aus Harry Potter», sagt Jakob.

Mittlerweile ist Jakob neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Zweimal wöchentlich besucht ihn eine Hilfslehrerin. Sie setzt sich während des Unterrichts neben ihn und unterstützt ihn dabei, mithalten zu können. Mit der Hilfslehrerin geht es besser. Schwierig ist es immer noch. Die Anforderungen in der Schule sind hoch: «Es ist viel», sagt Jakob, dem es schwerfällt, sich zu konzentrieren, immer dann, wenn da verschiedene Dinge sind, auf die er sich konzentrieren müsste.

Bei Menschen mit ADS werden Informationen und eigene Gedanken nicht automatisch vorgefiltert. Sie müssen mit einer grösseren Datenflut zurechtkommen. Bild: Roberta Fele

Zu Hause, wenn er mit seiner Nintendo Switch «Super Mario 3D World» spielt, ist das anders. Dann bewegt sich Jakob in einer Welt, die er kennt und die er beeinflussen kann. «Damit kann ich gut umgehen.» In der realen Welt ist es komplizierter: Ständig neue Eindrücke machen es ihm schwer. «Manchmal ist es so laut in meinem Kopf», sagt Jakob, als er beschreibt, wie sich das anfühlt, wenn man ADS hat und ständig den Fokus verliert. Wie er einem kleinen Kind erklären würde, was er hat? «Hallo, ich bin Jakob und manchmal kann ich nicht gut denken.»

Zu viel im Kopf

Jeden Morgen nimmt Jakob ein Medikament, das ihm hilft, den Fokus zu behalten. Nimmt er es nicht, ist er es, der den Unterschied am meisten merkt. «Es ist dann wieder zu viel im Kopf», sagt er und spielt mit seinen Fingern.

Was ihn beruhigt: die Ruhe selbst. Und Routine. Sein Psychologe empfiehlt ihm zudem, zu lesen. Aber im Moment liest Jakob nicht gerne. Dafür liest ihm sein Papa aus «Harry Potter» vor. Neben der Ruhe sei es auch das wilde Herumtoben, das ihn beruhige, sagt Jakobs Vater. Oder stundenlange Spaziergänge. Und Tiere. «Wir haben einen Kater zu Hause», sagt Jakob. «Er heisst Toody, er ist faul und er ist dick.»

ADS und ADHS

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Störung der neuronalen Entwicklung. Betroffene haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, sind impulsiv und leiden häufig unter einer starken körperlichen Unruhe (Hyperaktivität). Bei ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) tritt der Aspekt der Hyperaktivität hingegen nicht auf. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, ihren Alltag zu organisieren, sie sind verträumt und arbeiten ineffizient.  

Jungen mit einer ADHS verhalten sich mehrheitlich hyperaktiv, sie leiden unter motorischer Unruhe, sind laut und fallen im Unterricht auf. Betroffene Mädchen hingegen verhalten sich unauffällig, auch sie leiden unter Unaufmerksamkeit und innerer Unruhe, bemühen sich jedoch dies nicht zu zeigen, weshalb ADHS bei Mädchen oft unentdeckt bleibt.

Jakobs Vater schaut auf die Uhr: «Es ist bald drei», sagt er. «Sein Medikament lässt nach und damit auch seine Aufmerksamkeit. Jakob kann dann schlechter die geforderte Leistung erbringen.» Doch genau das möchte Jakob unbedingt: gut sein. «Kinder mit ADS können in einem vorgegebenen Tempo nicht unbedingt das Geforderte schaffen», sagt Jakobs Vater, «sie brauchen länger.» Und Jakob kann selbst genau einschätzen, wann es so weit ist, dass er performen kann. Bevor er an diesem Punkt ist, hält er sich konsequent zurück, denn: «Nicht gut zu sein, fühlt sich nicht gut an.»

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