Als ein Flugzeugabsturz ein Fünftel der Einwohner von Humlikon tötete

Ralph Denzel | 
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Der Absturzort in Dürrenäsch. Bild: Wikimedia

Vor 55 Jahren kam es bei Dürrenäsch zu einem der tragischsten Flugzeugunglücke der Schweiz. Mit an Bord: 43 Personen aus Humlikon - ein Fünftel der gesamten Gemeinde.

Es ist ein normaler Tag, der 4. September 1963. Eine Delegation des Gemeinderates Humlikon hat sich am Zürcher Flughafen eingefunden. Um kurz nach 6.30 Uhr treffen sich die Einwohner des kleinen Örtchens im Weinland dort, dann fliegen sie nach Genf zu einer Agramesse. Es sind gestandene Persönlichkeiten der Gemeinde, unter ihnen Gemeindepräsident Albert Steiger, die Wirtsleute Hans und Klara Frei, ebenso wie alle Gemeinderäte des kleinen Örtchens, damals 217 Einwohner stark.

Es ist neblig, aber das ist normal für diese Jahreszeit. Auch die Piloten der Caravelle-Maschine HB-ICV mit der Flugnummer 306, sind dieses Wetter gewöhnt. Sie befördern an diesem Tag 80 Menschen, davon sechs Crew-Mitglieder. Um 7.04 Uhr bekommt die Maschine, die den Namen "Schaffhausen" trägt, vom Tower in Kloten die Rollerlaubnis. Starten soll sie auf Piste 34. Aber die Sicht ist schlecht: Gerade mal 180 Meter weit können die Piloten sehen. Die verlangte Mindestsichtweite für den Start der Caravelle liegt bei 400 Meter.

Eine Caravelle-Maschine. Bild: Peter Ehrbar - own work, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=770600

Daher entscheidet sich der erfahrene Pilot Eugen Bohli zu einem damals typischen Manöver. Er fährt zurück und blässt mit seinem Triebwerken die Strecke frei. Das funktioniert so: Bei angezogenen Bremsen werden die Triebwerke für 10 bis 15 Sekunden auf eine hohe Leistung gebracht. Der heisse Triebwerksstrahl bläst dabei die Piste frei, bis zu 500-800 Metern können so von Nebel befreit werden. Das Problem: Die Nebelbänke schliessen sich sehr schnell wieder.

Daher entscheiden sich die Piloten, dass sie dieses Manöver während dem Zurückrollen immer wieder zu wiederholen. Die Triebwerke lassen sie mit erhöhter Leistung laufen. Die Geschwindigkeit regulieren sie mit der Radbremse. Man kann sich das so vorstellen, als würde man bei einem Auto Vollgas geben und, ohne vom Gas zu gehen, nur über die Bremse die Geschwindigkeit regulieren.

Dieses Manöver ist effektiv: Zehn Minuten später ist die Startbahn so frei, dass die Maschine starten kann.

Hier nimmt wohl das Unglück seinen Lauf. Denn was die Piloten nicht ahnen: Das Manöver hat die Reifen des Flugzeuges so stark belastet, dass eine Felge bricht. Später wird man teile davon auf dem Rollfeld finden. Als die Piloten dann abheben und die Räder einziehen, beschädigt diese gerissene Felge eine Hydraulikleitung des Flugzeugs. Diese ist für die Steuerung der Maschine zuständig - und ohne sie ist es nicht mehr manövrierfähig. 

So nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

Neun Minuten nach dem Start kommt es zum Absturz

Dann geht alles sehr schnell an Bord der Maschine.

Nach dem Start um 7.13 Uhr hat das Flugzeug sieben Minuten später eine Höhe von 2700 Metern erreicht – höher wird sie nicht mehr steigen, denn plötzlich verliert sie an Höhe. Zeugen berichten später, dass die Maschine eine Linkskurve fliegt und dabei immer mehr an Höhe verliert. 

Um 7.21 Uhr geben die Piloten ihren letzten Funkspruch ab. Es ist einen Notruf. «Mayday, Mayday, 306, no more … no more …» sind die letzten Worte des Co-Piloten.

In der Gemeinde Dürrenäsch hört man wenige Sekunden später einen ohrenbetäubenden Knall. 

Die Maschine bohrt sich mit solch einer Kraft in den Boden, dass es einen fast 10 Meter tiefen und fast 20 Meter breiten Krater hinterlässt. Hunderte Meter von der Absturzstelle entfernt werden Trümmer- und Leichenteile verteilt. Der Aufprall ist so heftig, dass die Druckwelle vorbeifliegende Vögel tötet, die ebenfalls die Unfallstelle säumen werden.

Die Absturzstelle. Bild: Von Comet Photo AG (Zürich) - ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Kaum menschliche Überreste

Die Zeit steht still in Dürrenäsch - wortwörtlich. Beim Absturz zerreist die Maschine eine Hauptstromleitung, wie der damalige Gemeindeammann Oskar Sager gegenüber der SN erklärt. Dadurch bleiben die Uhren stehen. 

Sehr schnell sind die ersten Helfer vor Ort – auch wenn sie nichts mehr ausrichten können. «Wir erkannten sofort, dass menschliche Hilfe hier zu spät kam — alles tot, kein einziger Überlebender auf der Stätte des Grauens. Es muss noch als glückliche Fügung betrachtet werden, dass die Maschine nicht fünfzig Meter weiter links niederging, denn dann hätte es noch mehr Opfer gegeben», so der Gemeindeammann.

Der Aufprall ist so massiv, dass von den Insassen nur wenig zurückblieb. Ein paar Geldbörsen, einige private Habseligkeiten – und ab und an auch mal ein «abgetrennter Finger oder ähnliches», wie die «Schaffhauser Nachrichten» vom 5. September 1963 schreiben. Später stehen überall auf der Absturzstelle kleine, weisse Fähnchen - sie symbolisieren, dass hier menschliche Überreste gefunden wurden.

An die «hundert Männner sind mit Grab-, Ordnungs- und Untersuchungsarbeiten beschäftigt», berichtet diese Zeitung von der Unfallstelle einen Tag danach. Darunter Rekruten der naheliegenden Genie-Rekrutenschule Brugg, ein Kran einer Zürcher Firma, ebenso wie der wissenschaftlichen Dienst der Kantonspolizei Zürich und der aargauischen Kantonspolizei, die dauernd dreissig Mann im Einsatz hat.

Die Todesanzeige in den «Schaffhauser Nachrichten». Bild: Archiv

Die ganze Welt schaut auf die Bergungsanstrengungen und auf die Särge, die dort neben dem Krater stehen. Gefüllt werden sie nicht. Irgendjemand hat, wie die SN damals berichten, «pietätvoll» Blumen gestreut.

Eine Person wird bereits ein Tag nach dem Absturz sicher identifiziert. Es ist ein Opfer aus Humlikon. Das ist keine Selbstverständlichkeit.

Die Identifizierung der Leichen läuft hauptsächlich über private Gegenstände. In einem provisorischen Büro müssen Angehörigen dann sagen, ob der gefundene Schuh ihrem Liebsten gehörte, oder nicht. Es ist eine kleinteilige, schwierige Aufgabe, sowohl für die Helfer als auch für die Angehörigen.

«Die Heimsuchung Humlikons»

So titeln die «Schaffhauser Nachrichten» einen Tag nach dem Unglück. Es ist eine traurige, aber leider auch passende Überschrift. Ein Fünftel der Einwohner sind tot, fast 40 Kinder des Ortes Vollwaisen, sechs Halbwaisen. Die Gemeinde steht ohne Verwaltung da. «Sämtliche Mitglieder des Gemeinderates und der Schulpflege von Humlikon sind in der Katastrophe von Dürrenäsch ums Leben gekommen», so die SN damals.

Die Wucht des Aufpralls beschädigte auch Bauernhäuser. Bild: SN-Archiv

«Da gemäss Verfassung die Verwaltung einer Gemeinde, deren Behörden nicht mehr existieren, der Bezirksrat übernimmt, werden nunmehr die Geschäfte der Gemeinde Humlikon vom Bezirksrat des Bezirkes Andelfingen, an dessen Spitze Statthalter Häfliger steht, übernommen.» Administrative Arbeiten übernimmt der damalige Bezirksratsschreiber Reinhold Grob. Dieser weilt während der Katastrophe in den Ferien, bricht diese jedoch ab, als er von der Katastrophe hört und kommt sofort nach Humlikon.

Die Druckwelle warf Erde und Wrackteile teils mehrere hundert Meter weit. Bild: SN-Archiv

Aber nicht nur die Gemeindeverwaltung ist lahmgelegt, auch wirtschaftlich ist es für die Gemeinde eine Katastrophe. Viele Bauernhöfe können nicht bestellt werden. Das kurz vor der Ernte.

Die Kinder, die ihre Eltern verloren haben, werden bei Verwandten wie den Grosseltern oder Onkeln und Tanten untergebracht. Nur wenige müssen den Ort verlassen, weil ihre Verwandtschaft weit weg wohnt.

Ein Dorf im Mittelpunkt – ob es das will oder nicht

Die Welt blickt auf Humlikon – und das nimmt traurige Auswüchse an. Das mediale Interesse ist so gross, dass manche Reporter nicht davor zurückschrecken, in die nun oft verwaisten Wohnungen einzubrechen und dort Schnappschüsse zu machen.

Wegen aufdringlicher Journalisten muss Humlikon von der Polizei bewacht werden. Bild: SN-Archiv

Die SN berichtet, dass eine Fotoagentur Waisen dazu aufordert, sie sollen doch bitte auf einem Bild extra weinen. Der kleine Ort, der versucht mit der Katastrophe umzugehen, weiss sich irgendwann nur noch mit Hilfe der Kantonspolizei zu schützen. Diese postiert sich mit Wachhunden, die zu aufdringliche Journalisten abhalten sollen. Die SN nennt diese Leute damals wütend «Aasgeier des Todes».

Am 9. September kommt es zu einer grossen Beerdigung in Andelfingen. Tausende nehmen Abschied von den Verstorbenen. Vier Särge werden in die Erde gelassen. 

Das Leben muss weitergehen

Humlikon versucht danach langsam wieder zur Normalität zurückzukehren. So wird am 26. und 27. Oktober ein neuer Gemeinderat gewählt. 52 Stimmberechtigte können ihre Stimme abgeben. Es ist nicht leicht, die freien Plätze überhaupt zu besetzen: Es fehlen schlicht mögliche Kandidaten.

Aber auch sonst geht das Leben weiter, auch dank der Hilfsbereitschaft, die der Ort erfährt: Viele Freiwillige, aus allen Sparten der Bevölkerung, leisten tagtäglich freiwillig Arbeit auf den Feldern der Gemeinde und sorgen dafür, dass aus dem menschlichen Schaden nicht auch ein wirtschaftlicher wird: In knapp 2000 Arbeitsstunden wird die Ernte des Jahres rechtzeitig eingebracht.

Auch ein Kindergarten wird gebaut, mit Spenden aus dem In- und Ausland. Dieser soll die Grosseltern und Familienangehörigen entlasten und den Waisen Sicherheit und Struktur in ihrem Leben geben. 

Finanziert wird vieles über den «Hilfsfonds Humlikon» - knapp 250‘000 Franken werden darin gesammelt.

Heute geht es Humlikon wieder gut. Knapp 500 Leute leben in der politisch selbstständigen Gemeinde. Auch dank der weltweiten Solidarität hat sie sich von dem Unglück erholt - zumindest so, wie es möglich ist.

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