Zwischen grosser Erschöpfung und unendlicher Glückseligkeit
Knapp 34 Stunden benötigte das Team von «shn.ch», um die 1010 Kilometer lange Tortour-Strecke zu absolvieren.
von Pascal Oesch
Bereits John F. Kennedy wusste: «Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren.» Der frühere US-Präsident hatte zwar andere Hobbys, wusste jedoch um die Vorzüge dieses Fortbewegungsmittels. Damit war er in guter Gesellschaft. Auch andere historische Persönlichkeiten schwangen sich hin und wieder in den Sattel. Arthur Conan Doyle etwa, der britische Schriftsteller und Erfinder von Sherlock Holmes. Oder dessen Landsmann Edward Elgar, Komponist von Werken wie den «Pomp and Circumstance»-Märschen. Er taufte sein Velo liebevoll «Mr. Phoebus», fuhr mit ihm durch die Hügel Worcestershires und hielt seine Routen akribisch auf Karten fest. Festgehalten ist die Strecke der Tortour genauso – auf Papier und elektronisch, dem heutigen Zeitalter entsprechend.
«Ich bin bis zum Ende meiner Kräfte gefordert worden.»
Mark Gasser, Tortour-Teilnehmer
Sonst gibt es indes kaum Parallelen zwischen Elgars Ausflügen und dem Nonstop-Radrennen rund um die Schweiz. «Ich bin bis zum Ende meiner Kräfte gefordert worden», erklärt Mark Gasser nach 1010 Kilometern. Er ist ein Teil des Teams des Meier-Medienhauses und sagt: «Aufgeben wollte ich nicht. Deshalb habe ich das Glas immer als halb voll gesehen.» Am Samstagvormittag ist Gasser zwischen Laufenburg und Eglisau unterwegs, auf der zweitletzten Etappe. Um 10.53 Uhr taucht er bei einem Parkplatz nach Koblenz am Horizont auf, passiert einen einsamen Lastwagen, ahmt das Victory-Zeichen im Stile Winston Churchills nach. In der Ferne steigt die Wasserdampfwolke des Kernkraftwerks Leibstadt gen Himmel; Auto um Auto fährt durch die Aargauer Agglomeration.
Bad Zurzach, Rekingen, Mellikon, Weiach – die Ortsnamen wechseln, das Leiden der Sportler bleibt. Doch gemeinsam lässt es sich besser ertragen. In Eglisau schliessen sich am letzten Posten alle «shn.ch»-Fahrer zusammen: Wie schon zu Beginn bestreiten sie die verbleibenden Kilometer als Quartett. Mit dem finalen Akt schliesst sich der Kreis. Er erinnert an die Rahmenhandlung einer Novelle. Und diese ist bei der Tortour 2018 sicherlich von aussergewöhnlichem Charakter. «Wir waren ein sensationelles Team. Jeder ging für jeden», sagt Sacha Meier. Er meint damit nicht nur die Protagonisten, sondern auch den kompletten Helfertross im Hintergrund. Mittlerweile dominiert überall die Müdigkeit; in den Begleitfahrzeugen ist es ziemlich ruhig geworden.
Zurück in bekannten Gefilden
Während die Helfer einen anderen Weg nehmen, prescht die Equipe dem Ziel entgegen. Nach wie vor schlagen sie ein hohes Tempo an. Die Fahrer erwecken nicht den Eindruck, als müssten sie durch Blei waten. Noch einmal treten sie in die Pedale. Noch einmal nehmen sie einen kleinen Schluck aus der Wasserflasche. Und noch einmal beissen sie die Zähne zusammen. Langsam, aber sicher, nimmt die Umgebung wieder vertrautere Formen an: Rheinau, Benken und Laufen-Uhwiesen heissen nun die Gemeinden, durch die sie radeln. Und plötzlich ist auf der Höhe Feuerthalens der Munot zu sehen – das Schaffhauser Wahrzeichen. Ein erstes zartes Gefühl des Nachhausekommens und ein letzter Ansporn. «Ich habe immer versucht, Vollgas zu geben», erläutert Marco Kern.
«Wir waren ein sensationelles Team. Jeder ging für jeden.»
Sacha Meier, Tortour-Teilnehmer
Ein anderes Rezept gibt es in den finalen Zügen der Tortour sowieso nicht. Bevor sie wieder zum Ausgangspunkt führt, sieht die Strecke einen kleinen Umweg über Büsingen vor: Solenberg, Herblingertal, Lochstrasse – das Ziel auf der Breite rückt näher und näher. Und um 13.08 Uhr ist es so weit. Das «shn.ch»-Team fährt in die IWC-Arena ein; Familien und Freunde, Verwandte und Bekannte jubeln dem Quartett zu. Da ein Schulterklopfen, dort eine Umarmung und ein Händedruck. Und allenthalben: Erleichterung. Mit einer Gesamtzeit von 33 Stunden, 48 Minuten und 31 Sekunden übertreffen die Teilnehmenden ihre eigenen Erwartungen deutlich: Sie reihen sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 29,6 Kilometern je Stunde im fünften Rang ein.
Zum Klang lauter Musik fährt die Mannschaft Minuten später auf die Bühne der Halle. Das Publikum applaudiert, steht Spalier, schwingt Fahnen. Was folgt, sind einige Fragen des Moderators, die Übergabe der Medaillen – und das gemeinsame Anstossen bei einem Kaltgetränk. «Es ist toll, dass wir es geschafft haben. Und erst noch so gut», freut sich Dario Muffler. Er spricht von einem Wow-Gefühl. Das «shn.ch»-Team pendelt zwischen grosser Erschöpfung und unendlicher Glückseligkeit. Jener Art von Freude also, die schon John F. Kennedy kannte.