Physio-Praxen am Limit: Warum Patienten wochenlang auf Termine warten müssen

Louise Østergaard | 
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Wer jetzt beim Skifahren stürzt, steht vielleicht schon bald bei der Physiotherapeutin in der Praxis. Foto: Keystone

Die Nachfrage nach Physiotherapie steigt, doch Fachkräftemangel und geringe Vergütung setzen die Branche unter Druck. Besonders ältere Menschen benötigen oft längere Reha, während Praxen an ihre Grenzen stossen.

Autsch! Der Ausflug in die Berge und das sportliche Brettern im Pulverschnee tun zwar Körper und Seele gut – doch es kann auch gefährlich werden: Besonders Sportlerinnen und Sportler zwischen 40 und 64 Jahren haben ein erhöhtes Risiko für schwere Verletzungen und langfristige Folgen. Eine aktuelle Auswertung der Suva zeigt, dass ihr Anteil von den jährlich rund 35'000 Skiunfällen in der Schweiz in den letzten 20 Jahren von 39 auf 56 Prozent gestiegen ist (Stand 2022). Hauptursachen der Unfälle sind fehlende Vorbereitung, Übermüdung und Selbstüberschätzung.

In vielen Fällen brauchen Menschen ab dieser Altersgruppe eine längere physiotherapeutische Betreuung – denn die Heilung verläuft langsamer, Begleiterkrankungen sind häufiger, und die Reha dauert oft länger.

Ein Tag mit der Schulklasse in Elm, fotografiert am Mittwoch 31. Januar 2024, in Elm. (Roberta Fele / Schaffhauser Nachrichten)
Skisaison ist auch Unfallsaison. Besonders ältere Sportlerinnen und Sportler sind gefährdet. Foto: Roberta Fele

Nächster freier Termin: in drei Wochen

«Wer jetzt beim Skifahren stürzt, steht vermutlich schon bald bei uns vor der Tür», sagt Miriam Molter, Physiotherapeutin und Inhaberin der Praxis M. Molter in Thayngen, die auch Sportverletzungen behandelt. Doch schnelle Hilfe ist oft nicht möglich.

Seit der Einführung des Fallpauschalensystems im Jahr 2012 hat sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Schweizer Spitälern kontinuierlich verkürzt. Medizinische Fortschritte tragen ebenfalls zu einer stärkeren Verlagerung in den ambulanten Bereich bei. «Früher lag man mehrere Wochen im Spital, heute noch wenige Tage – dann werden die Patienten zu uns geschickt. Doch wenn ich ihnen sagen muss, dass sie drei Wochen auf einen Termin warten müssen, ist der Frust verständlich», erklärt Molter. Es fehle ihr nicht an Arbeit – im Gegenteil –, der eigentliche Engpass ist das Personal. Genau aus diesem Grund musste Molter ihren zweiten Praxisstandort in Lohn aufgeben: Personalmangel.

Physio in der Krise

Ob sie nun Skifahren oder nicht – immer mehr Menschen benötigen physiotherapeutische Behandlung. Doch die Physiotherapie in der Schweiz stehe vor einer existenziellen Herausforderung, warnt Cornelia Haag Bohn, ebenfalls Physiotherapeutin und Präsidentin des Regionalverbands Schaffhausen-Thurgau Physioswiss: «Trotz ihrer zentralen Rolle in der Gesundheitsversorgung ist die Branche unterfinanziert. Die Betriebskosten steigen, doch die Tarife sind seit fast 30 Jahren unverändert tief, dazu kommt der akute Fachkräftemangel, während die Zahl der ärztlichen Verordnung stetig zunimmt», sagt Haag.

Der Hauptgrund für die steigende Nachfrage: die demografische Alterung. «Mit einer alternden Bevölkerung steigt die Zahl der Menschen mit chronischen Erkrankungen und Mehrfacherkrankungen. Doch fehlendes Personal in der Physiotherapie gefährdet die Versorgungssicherheit», so Haag.

Spannende Ausbildung – fehlende Karrieremöglichkeiten

Miriam Molter kam über das Tanzen zur Physiotherapie: «Als Tanzpädagogin war ich immer an Bewegung interessiert, doch auch die medizinische Seite hat mich fasziniert – und fasziniert mich nach wie vor», sagt sie. Dennoch verdiene man für eine akademische Ausbildung in der Physiotherapie schlicht zu wenig, und innerhalb des Berufs gäbe es kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Auch die Kosten einer eigenen Praxis seien kaum tragbar.

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Das Problem sei systembedingt: «Zwar werden Leute ausgebildet, doch kaum jemand bleibt langfristig in diesem Beruf. Tiefe Löhne und fehlende Aufstiegsmöglichkeiten motivieren nicht gerade, sich ein Berufsleben lang in diesem Bereich zu engagieren. Das System dreht sich im Kreis», so Molter. Dem stimmt auch Regionalverbandspräsidentin Haag zu: «Ohne strukturelle Reformen droht der Fachkräftemangel weiter zu eskalieren. Langfristig braucht es ein politisches Umdenken. Wir müssen uns fragen: Welche neuen Rollen können Fachkräfte der Physiotherapie in Zukunft übernehmen, um das System tragfähig zu machen?»

Regionalverband Schaffhausen-Thurgau Physioswiss

Der Regionalverband Schaffhausen-Thurgau von Physioswiss vertritt die Interessen der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten in den Kantonen Schaffhausen und Thurgau. Als Teil des nationalen Verbands setzt er sich für die beruflichen Anliegen seiner Mitglieder auf lokaler und regionaler Ebene ein. Zu seinen Aufgaben gehört die Organisation von Weiterbildungen, die politische Interessenvertretung sowie die Bereitstellung von Informationen und Ressourcen für die Mitglieder.

Rekrutierung aus dem Ausland: Sprachbarriere und Zertifikate

«Rund 75 Prozent des Personals in der Physiotherapie stammt aus Nachbarländern – nur 25 Prozent aus der Schweiz, besonders in Schaffhausen gibt es auch viele Grenzgänger», so Haag. Die Rekrutierung aus dem Ausland ist ein guter Lösungsansatz, doch die Akademisierung des Berufes erschwert den Zugang: «Die verlangten Zertifikate sind oft kostspielig und zeitaufwendig», sagt sie.

Ein weiteres Problem liegt in der Sprachbarriere: «Viele ältere Patienten sprechen kein Englisch – eine Verständigung ohne Deutschkenntnisse ist kaum möglich», ergänzt Molter. In ihrem Bewerbungsstapel finden sich hoch qualifizierte Fachkräfte aus Spanien und sogar aus Ägypten – doch ohne Sprachkenntnisse gibt es leider keine Anstellung.

Trotz dieser Herausforderungen wächst die Bedeutung der Physiotherapie stetig. Die steigende Nachfrage könnte auch eine Chance für gezielte Reformen und neue Berufsmodelle sein. Der Schweizer Physio-Verband setzt sich dafür ein, dass die richtigen Weichen gestellt werden, damit die Physiotherapie als unverzichtbarer Bestandteil der Gesundheitsversorgung gestärkt und zukunftssicher gemacht wird.

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