«Die Normen haben sich aufgelöst»
Alltagsstress, Angst, Lustlosigkeit: Der Sexualtherapeut Stefan Mamié weiss, was Paare beschäftigt. Im Interview sagt er, warum Harmonie nicht förderlich für Sex ist.
«Man vergisst, warum man sich geliebt hat»
«Das gemeinsame Schlafzimmer kann zum Problem werden», sagt Anwalt Fabian Teichmann, der Klienten in Scheidungsfragen berät. Wenn jeder seinen eigenen Raum hätte – einen Rückzugsort – würden viele Konflikte erst gar nicht entstehen. Bei getrennten Schlafzimmern würde vielleicht auch die Selbstverständlichkeit weniger schnell einkehren, die oft dazu führt, dass einer der Partner sich gehen lässt. «Wenn die Frau nicht mehr auf ihr Äusseres achtet, führt das zu Frustration beim Mann», so Teichmann. Das gilt auch für die Frau, wenn der Mann in ihren Augen seine Rolle nicht erfüllt. Falls es zur Scheidung kommt, tauchen weitere Probleme auf: «Man vergisst im Scheidungskrieg, warum man sich einmal geliebt hat.»
Fabian Teichmann Rechtsanwalt
Herr Mamié, wir sind ständig umgeben von Sex: in der Werbung, in den Medien, alles in Hochglanz. Was macht das mit uns?
Stefan Mamié: Sexualität ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wir leben in einer ziel- und leistungsorientierten Kultur, in einer, die stark nach Perfektion strebt. Das alles wirkt sich darauf aus, wie wir Sexualität erleben und leben. Und: Im Bereich Paarbeziehung und Sexualität haben sich die Normen aufgelöst, ganz vieles ist möglich und erlaubt, solange beide einverstanden sind. Aber das bedeutet: Jedes Paar muss seine eigenen Normen definieren. Glücklich sein bedeutet nicht unbedingt, dass ich so viel Sex habe wie möglich, sondern dass ich die Sexualität leben kann, die zu mir passt. Aus dem Betriebsmodus von Ziel- und Leistungsorientierung auszusteigen, kann eine breite Palette davon, wie man Sex erleben kann, bereithalten.
Ein Klischee besagt, dass Männer in einer Beziehung viel öfter Sex wollen als Frauen.
Tendenziell wünschen sich eher die Männer häufigeren Sex. Vielleicht hat die Frau weniger Lust auf Sex, vielleicht hat sie aber auch keine Lust auf diese Art von Sexualität. Diese Erkenntnis ist manchmal der Anfang einer Hinwendung zu den eigenen Bedürfnissen. Auch in der heutigen Zeit sind Frauen nicht darauf gepolt, sich und die eigenen Bedürfnisse zu spüren, sondern schauen eher drauf, dass es den anderen gut geht. Doch auch für den Mann ist es heute nicht einfach. Früher war die Befriedigung der Frau beim Sex weniger wichtig, heute besteht hier ein anderer Anspruch. Damit stehen beide möglicherweise unter Druck. Aber Druck begünstigt eine freie und freudige Sexualität nicht. Er macht Angst und verunsichert. Für eine schöne Sexualität braucht es Entspannung.
Und wenn der Mann nicht kann?
Der Mann läuft Gefahr, innerhalb des Leistungsdenkens zu bleiben und am eigenen Anspruch zu scheitern. Vermeidung ist nicht selten der nächste Schritt. Doch Vermeidung lässt das Problem nicht verschwinden, sondern macht es meist noch grösser. Wenn der Mann etwas verändern will, muss er sich den eigenen Ängsten und Unsicherheiten stellen.
Apropos Unsicherheit: Hat die #MeToo-Debatte Eingang in Paarbeziehungen gefunden?
Das zeigt sich bis jetzt eigentlich nicht in meinen Gesprächen. Aber das ist ja auch eine etwas andere Geschichte – Grenzmissachtungen durch Männer, die üblicherweise nicht in Partnerschaft mit der Betroffenen sind, sondern in einer anderen Art von Abhängigkeitsverhältnis.
Je länger eine Beziehung dauert, desto weniger Sex haben die meisten Paare. Warum?
Ein Grund kann die bereits bestehende Nähe, die ein Paar im Alltag lebt, sein: Man kann nicht etwas begehren, was man schon hat. Gerade in unserer Kultur möchten wir dem Partner entsprechen, freundlich sein, vielleicht den Partner schonen. Doch Erotik lebt auch von der Unterschiedlichkeit, nicht von der Anpassung. Es kann aber auch sein, dass unüberbrückbare Differenzen, Enttäuschungen, Kränkungen oder andere Verletzlichkeiten im Weg stehen, die erst aufgearbeitet werden müssen.
Wie kann man dieses Problem lösen?
Im Rahmen von begleiteten Paargesprächen geht es oft darum, dass ein Paar nachvollziehen kann, nach welchen Mechanismen sie sich in eine unerwünschte Dynamik hineinentwickelt haben. Und in einem weiteren Schritt nach Möglichkeiten zu suchen, die ein anderes Erleben und andere Gefühle einladen. Das kann anstrengend sein. Manche sagen, eine Beziehung sei Psychotherapie. (lacht)
Ein verbreitetes Mittel, sich Abwechslung zu verschaffen, ist fremdgehen. Soll man einen Seitensprung beichten oder nicht?
Das lässt sich nicht per se beantworten. Beichten kann auch feige sein, wenn damit die Verantwortung für das, was getan wurde, nicht übernommen wird, indem man sich durch die Beichte die Absolution beim Partner holt. Dieser kann den Seitensprung wegen der Ehrlichkeit des anderen fast nur noch gutheissen. Und Betroffene fühlen sich mit ihren Gefühlen alleingelassen.
Wie kann es danach weitergehen?
Ein Seitensprung muss noch lange nicht das Ende sein, und er sagt nicht immer etwas über die Qualität einer Beziehung aus. Hat man die erste Phase des Schmerzes durchlebt, kann es sich für das Paar lohnen, sich zu überlegen, welche Elemente im Seitensprung ausgelagert wurden – und wie man diese wieder in die Beziehung einbringen kann. Dieser Prozess kann heikle Punkte einer Beziehung ins Licht rücken, denen davor lieber ausgewichen wurde. Das Verlassen der Komfortzone ermöglicht aber ein neues Potenzial persönlicher und paardynamischer Entwicklung.