«Der traditionell gebaute Weidling lebt»
Zum ersten Mal baut Urs Kohler einen Motorweidling. Bisher wurden in der Werkstatt nur Stachelweidlinge hergestellt. Was es braucht, um ein neues Modell zu entwickeln, zeigte der passionierte Weidlingfan vor Ort.
Draussen liegt Schnee, und drinnen in der Werkstatt ist es zugig und so kalt, dass Weidlingbauer Urs Kohler nicht nur die Faserpelzjacke angezogen, sondern sich auch noch eine wollene Zipfelmütze aufgesetzt hat. Und so weit, wie der Winter vom Stacheln und Sich-auf-dem-Rhein-treiben-Lassen entfernt ist, so weit ist auch das Sperrholzmodell auf den Arbeitsböcken vom fertigen Weidling entfernt. Denn das, woran Urs Kohler momentan arbeitet, ist die Hilfskonstruktion, die er für die Herstellung seines ersten Motorweidlings braucht. Bisher wurden in der Werkstatt einzig Stachelweidlinge hergestellt, und wer mit Urs Kohler spricht, merkt schnell, dass sein Herz nicht für Schiffe mit Benzinmotoren schlägt. Aber: Kundenwunsch ist Kundenwunsch. «Dieses Jahr werden wir auf Bestellung vier Motorweidlinge und vier Stachelweidlinge bauen.»
Ein Modell und viel Gefühl
Weil nun ein Motorweidling etwas grösser ist als ein Stachelweidling, braucht Urs Kohler ein Modell, nach dem er dann den Prototyp baut. «Bei einem Motorweidling ist alles ein wenig anders als beim Stachelweidling. Die Bordwand ist etwas steiler, und das Boot ist insgesamt etwas breiter.»
Zunächst hat Urs Kohler den Weidling gezeichnet, dann die Spanten gemacht und schliesslich das Modell aus Sperrholz gefertigt. «Ich muss das Schiff, das ich bauen will, sehen», sagt Kohler, «damit ich mit dem Gefühl weiter an der Form arbeiten kann, die vielleicht auf dem Papier ganz gut aussah.» So wie der Prototyp werden dann alle Motorweidlinge, die Urs Kohler baut, aussehen. «Nach dem Modell stelle ich Schablonen her, und diese wiederum dienen dann dazu, die Bretter, die es für das Schiff braucht, zuzuschneiden.»
Das Holz, das Urs Kohler verarbeitet, kommt aus Wilchingen, von der Sägerei Hedinger. «Es sind Tannenbretter, etwa drei Zentimeter dick und zehn Meter lang, zwei, drei Jahre gelagert.» Dann wird zugesägt, gehobelt, und wenn es fertig ist, wird das Holz im sankt-gallischen Waldkirch mit einer Borsalzlösung druckimprägniert, und dann ist es bereit zur Verarbeitung. Diese Druckimprägnierung schützt das Holz vor Fäulnis, ansonsten aber braucht ein Weidling, so Urs Kohler, kaum Pflege. «Auch wenn er im Winter im Wasser bleibt, ja selbst wenn das Wasser im Innern gefriert, macht das gar nichts», sagt der Fachmann, fügt aber hinzu: «Wichtig ist, dass man den Weidling im Frühling herausnimmt und ganz gründlich reinigt und vor allem im Innern, an Stellen, wo sich Moos ansetzen kann, dieses entfernt, damit das Holz nicht fault.»
Rituale rund ums Weidlingfahren
Diese Reinigungsarbeit sei auch immer ein geselliges Ereignis, sagt Urs Kohler und spricht damit die emotionale Seite des Weidlingfahrens an. Schon wegen der paar Hundert Kilo, die ein solches Boot auf die Waage bringt, ist es sinnvoll, es an Land mithilfe von Kollegen zu bewegen. «Das ist ein Ritual.» Ein Schiff sei etwas Archaisches, sagt Urs Kohler, viele hätten daran eine grosse Freude. «Und Arbeiten wie Auswassern, Putzen, das Streichen des Unterbodens mit Kupfer gegen den Pflanzenbewuchs, das Einwassern, all das gehört einfach zum Weidlingfahren.»
Die Tradition ist Urs Kohler wichtig. Und im Weidlingbau bedeutet Tradition eben das Verwenden von Massivholz. «Natürlich könnte ich auch, wie die Konkurrenz aus Österreich, geleimte Dreischichtplatten verwenden. Ich habe sogar meinen eigenen Weidling auf diese Weise gebaut, aber ich will das auf keinen Fall hier bei uns einführen. Ich will bei unserer Bauweise bleiben.» Ja, die Schiffe aus Österreich seien um rund die Hälfte günstiger, räumt Urs Kohler ein, aber er könne nicht sagen, wie es um die Haltbarkeit bestellt sei. Dazu würden ihm die Erfahrungswerte fehlen. Warum er denn für seinen Weidling – der übrigens mit einem Elektromotor und Solarpaneelen angetrieben wird – diese Bauweise gewählt habe? «Um es auszuprobieren!» Aber das sei eben ein ganz anderes Schiff. «Der traditionell hergestellte Weidling lebt», sagt Urs Kohler, «man muss ihn zum Beispiel nach dem Überwintern verschwellen, damit er dicht ist. Den modernen Kahn mit dem Dreischichtholz können Sie einfach ins Wasser werfen und losfahren.» Aber da könne man ja dann ebenso gut einen Aluweidling kaufen: «Und ein solcher hält erst noch ewig.»
Zurück zum Prototyp. Eine Woche dauert es etwa, bis das Holz gemäss den Schablonen zugeschnitten ist und alle Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen sind, dann geht es an die Montage. «Die dauert dann noch einmal eine Woche. Oft arbeiten wir auch zu zweit.» Dann ist das Boot fertig. Grösstenteils besteht es aus Tannenholz, einzig die Hölzer für die Kettenringe an Bug und Heck, das sogenannte vordere und hintere Schoo, sind aus Eiche sowie die Spanten, an die die Beplankung der Bordwände geschraubt wird, und der Spiegel. So heisst das Brett, an dem der Benzinmotor befestigt wird. Vorne im Bug wird zu guter Letzt ein verschliessbarer Raum eingebaut, die Kiste, für all die Dinge wie Anker oder Schwimmwesten, die der Vorschrift gemäss, mitgeführt werden müssen.
Ein Herz für den Elektroweidling
Und dann ist es so weit: Der Kunde, der für das Schiff 12 000 bis 13 000 Franken hinblättern muss, sticht in See respektive befährt mit dem Kohler-Motorweidling-Prototyp zum ersten Mal den Rhein. Mit Kinderkrankheiten rechnet Urs Kohler nicht, denn schliesslich hat er schon über 100 Stachelweidlinge gebaut. Ob es allerdings dereinst einmal auch 100 Motorweidlinge sein werden, scheint dem so stark der Tradition verpflichteten Urs Kohler indes ungewiss: «Ich bin ein Elektrofan», sagt er, «und bin der Überzeugung: Elektroweidlinge mit Solarpaneel werden die Zukunft sein. Die sind super.»
Der Weidling: Geschichte und Gegenwart eines Typs
Uralt Der Weidling ist ein Flachboot, und diesen Bootstyp gibt es bereits seit über 5000 Jahren.
Verbreitung Der Weidling ist vor allem in der Schweiz, aber auch in Österreich und Deutschland auf Flüssen und Seen sehr beliebt und steht in vielfältigem Einsatz.
Verwendung Der Weidling wurde früher zum Warentransport benutzt, heute ist er ein Freizeitboot. Im Kanton Schaffhausen ist dieser Bootstyp geradezu ein Wahrzeichen auf dem Rhein. Aber auch die Seilfähren in Basel sind Weidlinge, ebenso die Donauzillen.
Dimensionen Ein klassischer Schaffhauser Stachelweidling ist rund 9 Meter lang und etwa 1,5 Meter breit und wiegt um die 400 Kilogramm.
Preis und Haltbarkeit Ein traditioneller Stachelweidling mit Eichenspanten und Tannenbeplankung kostet rund 10 000 Franken und hält 20 bis 30 Jahre.