«Oft steckt bei Mobbing keine böse Absicht dahinter»
Mobbing unter Jugendlichen kennt viele Ursachen. Eltern und Lehrkräfte sind im Umgang mit Betroffenen, auch mit den Tätern, stark gefordert. Rebecca Kunz will sie mit ihrem Training dafür sensibilisieren, die Konsequenzen ihrer Handlungen zu erkennen.
Mobbing unter Kindern und Jugendlichen beschäftigt Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte gleichermassen. Es ist nicht nur auf den Pausenplatz beschränkt, sondern findet auch immer häufiger im Netz statt. Im Äussersten kann es gar zu Gewalt kommen. Rebecca Kunz besucht als «Respekt-Coach» Schulklassen, um mit ihnen über Mobbing zu sprechen. Im Gespräch erklärt sie, auf welche Signale Erziehungsberechtigte bei ihren Kindern achten sollen und weshalb die Schulsozialarbeit nicht alles regeln kann.
Frau Kunz, Sie machen Mobbing-Prävention mit Schulklassen. Wie genau arbeiten Sie mit den Kindern und Jugendlichen zusammen?
Rebecca Kunz: Ziel ist es, den Kindern oder Jugendlichen die Regeln und Rechte innerhalb einer Gruppe, eines Teams oder einer Klasse zu vermitteln. Sodass sie wissen, wie sie sich gegenüber einander verhalten sollen. Vor allem geht es bei meinen Lektionen um Empathie. Wenn diese nicht vorhanden ist, kristallisiert sich aus dem heraus auch das ganze Mobbing.
Sie sprechen damit die Fähigkeit an, sich in die Situation von jemand anderem hineinzuversetzen, die nicht überall gleich vorhanden ist. Es gibt viele Prank-Videos – gefilmte Streiche – in den Sozialen Medien, in denen das Gegenüber veräppelt wird. Haben Sie denn das Gefühl, dass diese Fähigkeit zur Empathie bei Kindern und Jugendlichen dadurch verloren geht?
Ich denke schon, dass die Sozialen Medien zu einer Abstumpfung geführt haben. Es wird einem auf diesen Kanälen vermittelt, dass diese Streiche nicht so schlimm sind. Die denken sich dann, crazy, das kann ich auch machen, da passiert mir nichts. Böswillig jemandem etwas zuleide tun, ist nicht das Thema, da ist auch keine böse Absicht dahinter – bis auf wenige Fälle.
Inwiefern können Kinder um die zwölf Jahre abschätzen, was noch okay ist und was nicht?
Wenn ich meinem Kind ein Handy schenke, übergebe ich ihm ganz viel Freiheit. Und viele Eltern sind sich nicht wirklich bewusst, was mit dieser Freiheit verbunden ist. Auf vielen verschiedenen Kanälen werden den Kindern Dinge vorgelebt, die sie gar nicht einordnen können. Sie finden Videos im Netz interessant, probieren sie nachzuahmen. Die Eltern müssen das Kind dahingehend begleiten.
Also Grenzen aufzeigen, aufklären.
Genau, und als Eltern informiert sein über diese Kanäle. Wissen, was die Kinder tagtäglich zu sehen kriegen. Sich damit auseinandersetzen: Wo ist was zu finden, wer sagt was und was ist die Motivation hinter dem Ganzen?
Man kann als Eltern diese Kanäle im Blick haben, aber kann man wirklich kontrollieren, was das Kind sieht?
Ich bin kein Freund von Verboten. Es sollte aber ein Gespräch stattfinden. Man kann sich als Erziehungsberechtigte auch mal vom Kind erklären lassen, was denn so spannend an den verschiedenen Videos ist, sie fragen, was sie daran fasziniert. Nicht einfach nur sagen, dass alles davon schlecht ist.
Es heisst des Öfteren, man könne sich Fälle bei denen Mobbing oder Gewalt involviert ist, nicht erklären. Nimmt man diese Haltung zu schnell ein?
Man muss sicher nicht bei jedem kleinen Streich aufschrecken. In diesem Alter muss ein Teil der Sozialkompetenz ja erst noch entwickelt werden. Wenn man als Eltern aber merkt, dass das Kind sehr oft abwesend ist oder seinen Kollegenkreis, mit dem es immer unterwegs war, nicht mehr aufsucht, dann sollte man wachsam werden. Das können Signale sein, die heissen: ‹Mir geht es nicht gut.› In diesem Alter können sich Kinder und Jugendliche weniger artikulieren und sie wollen den Eltern auch keine Sorgen bereiten, deshalb sagen sie vielleicht nichts.
Wir sprechen jetzt über die gemobbten Kinder und Jugendlichen. Wie ist es denn bei den Tätern? Kann man als Eltern merken, dass das eigene Kind ein Mobber ist?
Das ist natürlich schwierig. Jeder Täter war irgendwann mal ein Opfer, sei dies zu Hause oder im Kindergarten, in der Spielgruppe, im Verein. Ich will Eltern nicht an den Pranger stellen, aber da fehlt es zuweilen an Empathie, die nie gelernt wurde.
Was für eine Haltung sollen die Eltern einnehmen?
Alle Eltern würden vermutlich sagen, mein Kind macht so was nicht. Aber man sollte Dinge, die einem auffallen, ansprechen. Und das Kind auch mal sprechen lassen und nicht unterbrechen. Kein ‹Ja, aber›, sondern einfach zuhören. Und wenn man dann mal die Gründe vorgelegt bekommt, dann sollte man auf Lösungen hinweisen. Zeigen, dass man der sichere Hafen ist, damit das Kind weiss, es kann sich an einen wenden, wenn es Probleme hat. Wenn ich mein Kind begleite und ihm mein Vertrauen immer wieder aufzeige, kann das Vertrauen in mir als Elternteil oder Erziehungsberechtigter wachsen. Elternsein ist eine stete grosse Herausforderung. Man muss immer wieder über die Bücher gehen, eine Führungsrolle übernehmen und dabei konstruktiv vorgehen.
Können Sie von einem Fall erzählen, bei dem Sie involviert wurden?
Für eine Oberstufenklasse, die damals frisch angefangen hatte, wurde ein Whatsapp-Chat erstellt. Dort hat man sich anfangs ausgetauscht, wie es in diesem Alter normal ist. Dann kippte die Stimmung aber langsam und eine Person wurde gemobbt. Die Lehrperson wandte sich an die Eltern, es kehrte aber keine Ruhe ein. Ich besuchte die Klasse und sprach mit den Kindern auch über Pubertät, zeigte ihnen, was momentan in ihrem Kopf passiert. Nach zwei Monaten erhielt ich das Feedback, dass sich die Situation extrem beruhigt habe. Wir führten dann nochmals eine Lektion und seither ist die Klasse gefestigt.
Die Schülerinnen und Schüler befanden sich in der Pubertät. Wie waren denn die Reaktionen auf Sie?
Ich habe aktuell selbst pubertierende Zwillinge zu Hause, daher ist es für mich vielleicht auch einfacher. Aber ich habe keine belehrende oder eine bestimmende Art an mir, wenn ich den Jugendlichen etwas aufzeige oder erkläre. Ich versuche, mich in diese Klasse hineinzudenken. Was geht in den Köpfen vor? Und dann nehme ich das laufend auf und passe mich der Situation an.
Wird Ihrer Meinung nach genug für Prävention gemacht?
Das ist schwierig zu beurteilen. Wenn ich selbst Kinder habe, die in solch einer Situation sind, erlebe ich das anders, als wenn ich Kinder habe, die nicht mit Mobbing konfrontiert sind. Ich habe einfach mehrheitlich gehört, dass sich Betroffene in solchen Situationen alleingelassen fühlen.
Wer beauftragt Sie, Kurse durch- zuführen?
Das Schulamt und die Schulvorsteher wissen, dass es mich gibt. Bisher war aber keine Resonanz da. Es hiess, dafür sei die Schulsozialarbeit zuständig. Aber diese ist ja auch für andere Themen zuständig, nicht für Mobbing. Ich habe das Gefühl, die Schulsozialarbeiter beissen sich die Zähne aus und es passiert nichts.
Wieso?
Um Mobbing muss sich eine aussenstehende Person kümmern, die nicht verbunden ist mit dem betroffenen Schulhaus. Damit ist eine gewisse Neutralität vorhanden. Man kennt keine Familiengeschichten oder auch nicht die Geschwister eines betroffenen Kindes, die vielleicht schon etwas Ähnliches durchgemacht haben. Man ist unvoreingenommener.
Wo sehen Sie denn die Aufgabe der Sozialarbeit?
Das ist für mich die Stelle, die sich um die kleinen Dinge, den versteckten Finken, das versteckte Etui, kümmert.
Könnte man aber versteckte Etuis oder Finken nicht auch bereits als Mobbing definieren?
Doch. Aber wenn diese Art Mobbing ein zu grosses Ausmass annimmt und die Fronten schon verhärtet sind, geht bei der Schulsozialarbeit nichts mehr.
Dann bräuchte es Respektcoachings dann, wenn sich die Klasse am kennenlernen ist?
Unbedingt. Man sollte auf keinen Fall mit solchen Coachings warten. Wenn es ab der vierten Klasse mit der ersten Durchmischung einen brennenden Herd gibt und dieser wird nicht gelöscht, brennt es in der Oberstufe, wenn die Kinder nochmals neu durchmischt werden, gewaltig.