Singend durch die Strassen von Fiume

Wolfgang Schreiber | 
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Auch mal im Technomove bewegen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler durch die imaginären Strassen von Fiume im Jahr 1919. Bild: Jeannette Vogel

In der Rhyality Immersive Art Hall in Neuhausen am Rheinfall ist das Theaterstück «Fiume» aufgeführt worden. Die Aufführung behandelt ein historisches, aktuell immer noch bedeutsames Thema.

Zwischen Reden, Orgien und dem Eurotechno der 90er-Jahre untersucht das Stück «Fiume», gespielt von elf Schauspielerinnen und Schauspielern in verschiedenen Rollen, die Funktionen von Ideologie und Begehren und fragt danach, was mit unserem Denken passiert, wenn der Kapitalismus in die Katastrophe führt. So heisst es in der schriftlichen Ankündigung des Stücks. In der Rhyality Immersive Art Hall auf dem SIG-Areal gilt: «Eintritt für Gewerkschaftsmitglieder aller Verbände gratis». Warum das?

Das Theaterstück ist von Antonin Rohdich ganz aktuell geschrieben worden. Es sei keine Auftragsarbeit gewesen, sagt die Autorin. Sie wollte aus eigenem Antrieb ein Stück schreiben, das zeigt, wie die Liebe zur Schönheit in den Faschismus mündet. Sie sei dazu in der Geschichte fündig geworden. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, als die Monarchien in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn zusammenbrachen, bildeten sich meist nur für kurze Zeit Stadtrepubliken, die, angeführt von ­revolutionären Soldaten, bald von Literaten und anderen Intellektuellen übernommen wurden. Antonin Rohdich hat sich nicht für beispielsweise Kiel oder München, sondern für die an der Adria gelegene Stadt Fiume entschieden.

Ein Dichter übernimmt die Stadt

Dort hat 1919 der italienische Dekadenz-Dichter Gabriele D’Annunzio mit einem Haufen Deserteure der italienischen Armee die kroatische Stadt Fiume eingenommen, um sie dem italienischen Staat anzuschliessen. Als die italienische Regierung ihrerseits Fiume belagert, um die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg zu wahren, gestalten die Besetzerinnen und Besetzer die Stadt nach eigenen Vorstellungen. Künstlerinnen und Künstler, traumatisierte Soldaten, Nationalsyndikalistinnen, Esoteriker und Esoterikerinnen und faschistoide Denker machen Fiume zu einer Experimentierstadt sich widersprechender Ideologien und zu einem Vorspiel des Aufstiegs des Faschismus in Europa. Fiume heisst heute Rijeka und gehört zu Kroatien.

Erstmals aufgeführt wurde das Stück in Kurzform am «Theater in allen Räumen» der Zürcher Hochschule der Künste in der Gessnerallee am 9. und 10. Juli dieses Jahres. Die eigentliche Premiere folgte am 6. August 2022 im Rahmen des Festivals «Rote Kulturtage» im Volkshaus Zürich, wo die Inszenierung auch am 7. August 2022 gespielt wurde.

Im Gedanken an die Geschichte der linken Kunst und Gewerkschaftskultur möchten die Roten Kulturtage die Frage der Kultur wieder mit sozialen Kämpfen verknüpfen. Was die elf Schauspielerinnen und Schauspieler, die meisten von ihnen ausgebildet an der Zürcher Hochschule der Künste, unter der Regie von Artemisia Valisa auf dem nackten Boden der alten Fabrikhalle auf dem SIG-Areal zeigen, ist ein mitreissendes Schauspiel. Das Stück dauert etwa zwei Stunden, doch es wird zu keiner Minute langweilig. Die Szenen reihen sich nahtlos aneinander. Es taumeln diese Menschen durch die in der Rhyality Immersiv Art Hall imaginierten Strassen von Fiume, tanzend, singend oder marschierend auf dem Weg, das Alte niederzureissen und Platz zu machen für die Schönheit, für die Gerechtigkeit oder für ihre ganz persönlichen Ziele. Es gibt kabarettartige Szenen und ein auf italienisch gesungenes Arbeiterlied, das mit der Kraft des Gefangenenchors der Oper Nabucco beim Publikum ­ankommt.

Das Theaterstück bietet sowohl bezaubernde Tanzszenen als auch grausige Militärspektakel. Kennerinnen und Kenner fühlen sich an Bert Brechts Theaterintension erinnert, speziell, was die spartanische Bühnendekoration angeht. Ein Tisch, Stühle, zwei weisse Säulen und Licht, mehr brauchte es nicht.

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