Wenn der Staat das Kind wegnimmt

Sophie Nussli | 
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Julio Laciar, Gründer von drei Kinderheimen in Argentinien, und Schaffhauserin Claudia Osswald, die in einem dieser drei Heime tätig ist, erzählen von schweren Schicksalen und wie die Kinder dennoch das Leben meistern. Sie bezeichnen die Kinder deshalb als Superhelden.

Argentinien zählte bis ­Anfang der 1950er zu den reichsten Ländern weltweit. Heute gilt das Land als ein Schwellenland. Julio Laciar, Gründer von drei Kinderheimen in Argentinien, spürt die Auswirkungen der Armut bei seiner Arbeit tagtäglich.

Am Donnerstagabend war der Argentinier in Schaffhausen zu Besuch. Grund ­dafür war ein Informationsanlass im Restaurant «Alter Emmersberg». Julio Laciar ist in der Schweiz und in Deutschland unterwegs, um sein Projekt bekannt zu ­machen und dadurch neue Unterstützung zu gewinnen, denn seine Kinderheime sind von Spenden und Freiwilligen ab­hängig. Der Gesprächsfokus soll nicht auf dem Leid der Kinder liegen, viel mehr soll die Wirksamkeit von Unterstützungen im Zentrum des «Superheldinnen-und-Superhelden-Projekts» stehen. Auf einem Flyer heisst es: Wie werde ich zur Superheldin, zum Superhelden für 100 Kinder in Argentinien? «Man soll sich bewusst sein, dass uns jede kleine Spende hilft», sagt Laciar, «und sich die Lebensqualität der grössten Superheldinnen und Superhelden, der Heimkinder, erheblich verbessert». Unterstützen kann man das Projekt in Form einer Patenschaft für ein Kind, mit einer Spende an die Heimschule, einer Spende für Medikamente, Kleidung, Brillen oder Zahnspangen und nicht zuletzt als frei­willige Helferin oder freiwilliger Helfer vor Ort. Doch wieso ist der Argentinier in Schaffhausen unterwegs?

Vor 22 Jahren hat Julio Laciar sein erstes Kinderheim eröffnet. Das Heim wird von insgesamt 46 Kindern bewohnt, 18 davon sind Mädchen, die restlichen 28 sind Knaben. Claudia Osswald lebt in Argentinien und ist in diesem Kinderheim als freiwillige Helferin tätig. Vor elf Jahren ist sie mit ihrer Familie von Schaffhausen nach Mexiko ausgewandert, aufgrund der beruflichen Tätigkeit ihres Mannes. Nach drei Jahren in Zentralamerika ist die Familie nach Südamerika, nach Argentinien, gezogen.

Der Kampf ums Überleben

«Ich besuche das Heim einmal pro ­Woche und bin vor allem für den Aufbau der internen Schule zuständig», sagt Osswald. Die meisten Kinder sind Analphabeten und wegen ihrer Schicksalsschläge und der ­daraus resultierenden psychischen Ver­fassung nicht imstande, eine staatliche Schule zu besuchen. «Ziel der internen Schule ist es, die Kinder zu alphabetisieren und sie in ihrem Verhalten auf eine staatliche Schule vorzubereiten», sagt sie. Neben dieser operativen Tätigkeit pflegt die Schaffhauserin auch den direkten Kontakt zu den Kindern. «Sobald ich in San Marco Sierras ankomme, stürmen die Kinder aus dem Heim, rennen auf mich zu und umarmen mich – das erwärmt mein Herz jedes Mal.» Viele Kinder seien aufgrund ihrer ­Geschichte in eine Schockstarre geraten und hätten dadurch nie sprechen gelernt, sagt sie. Zu diesen Kindern findet die 48-Jährige den Zugang über gestalterische Arbeit. «Ich bringe Stift und Papier mit. Viele Kinder können ihre Gefühle durch das Malen ausdrucken, vielleicht ein Stück weit auch verarbeiten.»

«Für Kinder auf der Strasse beginnt der Kampf ums Überleben schon nach kurzer Zeit.»

Claudia Osswald arbeitet im Kinderheim in San Marcos Sierra in Argentinien

Es gibt hauptsächlich drei Gründe, wieso man in ein Kinderheim kommt. Häusliche Gewalt ist einer davon. Die Kinder werden von ihren Eltern missbraucht, nicht selten auch sexuell. Andere Kinder werden auf der Strasse ausgesetzt. «Oftmals beginnt da der Kampf ums Überleben schon nach kurzer Zeit», sagt Osswald. Der dritte Grund ist die Vernachlässigung zu Hause. Väter und Mütter kommen ihrer elterlichen Pflicht nicht nach und sorgen sich nicht um den Sohn oder die Tochter. Der Missbrauch von Drogen spielt in vielen Fällen eine entscheidende Rolle. «Viele Eltern verkaufen ihre Kinder, prostituieren sie, um an Geld für Drogen zu kommen», sagt sie. Die meisten Heimkinder hätten demnach Familie, aus Vorsorge- und Sicherheitsgründen muss der Staat den Eltern die Kinder aber wegnehmen.

Zeitintensive Arbeit

Julio Laciar engagiert sich seit vielen Jahren im sozialen Bereich. Beruflich war er lange in einer sozialen Institution tätig, die Strassenkinder mit Essen versorgt und sie so vor dem Verhungern rettet. Im Alter von 30 Jahren erlitt er einen Schicksalsschlag – die Diagnose Nierenkrebs. «Der Krankheitsverlauf war schwer, zeitweise war ich mehr tot als lebendig», erinnert sich der mittlerweile 54-Jährige zurück. «In diesem Zustand habe ich mir geschworen, wenn ich diese Krankheit überlebe, will ich den Strassenkindern helfen, auch zu überleben.» Wider Erwarten konnte er den Krebs besiegen. Nach der endgültigen Genesung hat er für zwei Jahre in einem Kinderheim mitgearbeitet. Der Umgang mit den Kindern in diesem Heim habe ihm jedoch überhaupt nicht entsprochen, und so entschied er sich, ein eigenes Projekt zu starten. Das erste Kinderheim eröffnete er vor 22 Jahren in San Marcos Sierra, zwei Stunden nördlich von Córdoba. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel musste er die Unterkunft in den ersten acht Jahren mieten, 2008 war genügend Geld beisammen, um das Grundstück und das Haus zu kaufen. 2015 eröffnete er ein zweites Kinderheim in Embalse, eine Stunde südlich von Córdoba, das von insgesamt 13 Mädchen bewohnt wird. 2017 hat er das dritte Heim gegründet. In El Diquecito, eine halbe Stunde westlich von Córdoba, sind insgesamt 40 Kinder zu Hause, 24 Mädchen und 16 Knaben.

In den Heimen arbeiten Angestellte und Freiwillige. Der Lohn der Angestellten reicht aber nicht weit, weshalb sie selber im Kinderheim wohnen. Die Arbeit ist zeitintensiv und die Schicksale der Kinder sind berührend. «Ich bin ununterbrochen im Heim beschäftigt, Zeit für anderes bleibt kaum – doch ich kann mir nichts Schöneres vorstellen», sagt Julio Laciar.

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