Inklusion im Arbeitsmarkt wird konkreter
Menschen mit Behinderung erfolgreich in den ersten Arbeitsmarkt integrieren; was gewisse Unternehmen bereits umsetzen, davon sind andere noch weit entfernt. Warum? Die SN haben mit Schaffhauser Experten über Chancen und Schwierigkeiten der Inklusion gesprochen.
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Mehr Teilhabe, Gleichberechtigung, Inklusion. Verschiedene Organisationen und Vereine für Menschen mit Behinderungen arbeiten an einer Inklusionsinitiative, die unter anderem die freie Wahl der Wohnform fordert und dass Menschen mit Behinderung wie andere Menschen «am Leben der Gesellschaft teilnehmen können». Die Bundesverfassung soll entsprechend angepasst werden. Dies, weil Inklusion in der Schweiz – trotz des seit 22 Jahren geltenden Verbots der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, das mit dem Behindertengleichstellungsgesetz konkretisiert wurde – bisher nur punktuell anzutreffen ist.
Ein Erwachsener verbringt den Grossteil seines Lebens mit arbeiten. Den 1,8 Millionen Menschen mit Behinderung bleibt der Zugang zum Arbeitsleben oft verwehrt, meist wegen Vorurteilen und Unsicherheiten der potenziellen Arbeitgeber. Vielerorts fehlt es aber auch schlicht an der nötigen Struktur, um Inklusion erfolgreich umsetzen zu können. Dank erfolgreicher Zusammenarbeit verschiedener Institutionen wie dem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV), der Invalidenversicherung (IV), «mitschaffe.ch» und altra gehört Schaffhausen bezüglich Inklusion im Arbeitsmarkt zu den besser aufgestellten Kantonen. Die SN haben mit Thomas Bräm, Gründer und Geschäftsleiter von «mitschaffe.ch», Stefan Ege, Leiter Geschützte Arbeitsplätze und Ausbildung bei altra Schaffhausen und Bruno Büchi, Leiter RAV, über das Potenzial und die Herausforderungen von Inklusion im ersten Arbeitsmarkt gesprochen.
Arbeitssuche mit Einschränkung
Für Inklusion gibt es zwei Hauptgründe – der eine ist die grundsätzliche Überzeugung, dass alle Menschen ein Recht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben haben. Der andere ist pragmatischer Natur: Je mehr Menschen im ersten Arbeitsmarkt erfolgreich integriert sind, desto weniger Ausgaben hat der Staat, weil zum Beispiel weniger IV-Renten ausgezahlt werden müssen. In beiden Fällen gilt es, potenzielle Arbeitgeber davon zu überzeugen, Personen mit einer Behinderung einzustellen. Beim RAV Schaffhausen geschieht dies zum Beispiel über den auf der Website zugänglichen Arbeitgeberservice. «Angebote wie Praktika und Einarbeitungszuschüsse teilen wir auch Arbeitgebenden und den Versicherten mit, die bei uns gemeldet sind», sagt Büchi. Im Bereich der arbeitsmarktlichen Massnahmen arbeite das RAV auch eng mit der IV zusammen – zum Beispiel bei Personen, die aufgrund eines Arbeitsunfalls eingeschränkt seien oder die wegen einer Allergie ihren Beruf nicht mehr weiter ausüben können.
Konkrete Zahlen nennt Büchi keine, er sagt jedoch, dass die Vermittlungsquote von Menschen mit Beeinträchtigung tiefer sei als jene ohne. So kommt es auch vor, dass das RAV eine Person «mitschaffe.ch» zuweist. «Wir gehen dann für das RAV auf Stellensuche», sagt Geschäftsführer Thomas Bräm. Wegen ihres in über zehn Jahren aufgebauten Netzwerks von Arbeitgebern sowie ihrer Erfahrung in der Beratung finden sie meist eine Lösung. «Für Menschen mit einer körperlichen Behinderung fungieren wir vor allem als Türöffner, damit diese Person die Möglichkeit bekommt, zu zeigen, was sie leisten kann.» «mitschaffe.ch» wurde 2013 gegründet und ist ein Personalverleih von Menschen mit Beeinträchtigung. Nebst der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt bietet «mitschaffe.ch» auch (kontinuierliche) Jobcoachings für Arbeitnehmende und Beratung für (potenzielle) Arbeitgebende an. «Personen, die sich bei ‹mitschaffe.ch› melden, melden sich freiwillig, weil sie unbedingt arbeiten möchten. Das ist die Grundlage für eine erfolgreiche Vermittlung», erklärt Bräm.
Eine Frage der Ausbildung
Wie auch Bräm macht Stefan Ege, Leiter Geschützte Arbeitsplätze und Ausbildung bei altra Schaffhausen, die Erfahrung, dass es Menschen mit einer psychischen Erkrankung am schwersten haben, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Das hat laut Ege vor allem mit Berührungsängsten auf Grund fehlender Erfahrungen zu tun. «Mögliche Krisen und daraus resultierende Absenzen können herausfordernd werden, wenn es darum geht, Menschen mit psychischer Beeinträchtigung in Unternehmen des ersten Arbeitsmarkts zu platzieren.» Und doch erzielt die altra auch hier immer wieder erfreuliche Erfolge. Ob und wie erfolgreich jemand, der bei altra eine Ausbildung absolviert hat, im ersten Arbeitsmarkt Fuss fasst, sei auch vom Niveau des Abschlusses abhängig. «Wer einen EFZ-Abschluss hat, findet eher eine Stelle als jemand mit PRA.» Der Erwerb des Eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses EFZ dauert drei bis vier Jahre, das zweijährige Eidgenössische Berufsattest EBA ist praxisorientierter.
PRA steht für Praktische Ausbildung und ist ein niederschwelliges Ausbildungsangebot, das nicht von regulären Berufsschulen, sondern Institutionen wie der altra angeboten wird. Der Ausbildung entsprechende Jobs finden sich vor allem in Branchen wie der Logistik oder dem Betriebsunterhalt, die Nischenarbeitsplätze mit weniger anspruchsvollem Anforderungsprofil anbieten können, so Ege. Nicht nur bei KMUs finden sich geeignete Arbeitsplätze. Immer mehr Grossunternehmen kommen auf «mitschaffe.ch» zu. Vor Kurzem konnte er einen Softwareentwickler mit Asperger-Syndrom an die UBS vermitteln, sowie mehrere Personen an H&M Schweiz, wo sie nun im Laden arbeiten. «‹Diversity und Inclusion wird für Unternehmen attraktiver, weil es gerade ‹in› ist im Sinne von ‹tue Gutes und sprich darüber›. Auf dieser Welle reiten wir jetzt ein bisschen mit.»
Modell mit Zukunft?
Für die Menschen mit Behinderung, die im ersten Arbeitsmarkt eine Stelle finden, ist die Motivation der Grossunternehmen eher zweitrangig, denn es scheint langfristig zu funktionieren. So berichtet Stefan Ege, dass von 17 Abschlüssen in diesem Jahr fast die Hälfte eine Anschlusslösung der nächst höheren Ausbildungsstufe im ersten Arbeitsmarkt gefunden hat, und: «Seit meinem Beginn bei der altra vor vier Jahren kann ich mich an einige Jugendliche und junge Erwachsene erinnern, die auf Stufe EBA oder EFZ bei uns die Ausbildung abgeschlossen haben, im ersten Arbeitsmarkt ein Anstellungsverhältnis fanden und dort auch noch nach drei Jahren tätig sind.» Bräm und Ege sind überzeugt, dass die Inklusion dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann. Sei es durch erfolgreiche Berufsausbildung oder durch sensibilisieren der Arbeitgebenden und Betreuung der Arbeitnehmenden.
Bruno Büchi vom RAV Schaffhausen ist diesbezüglich weniger zuversichtlich: «Ich glaube nicht, dass die Inklusion in den ersten Arbeitsmarkt einen sehr grossen Effekt auf den Fachkräftemangel hat oder haben wird.» Dies jedoch nicht, weil er vom Gelingen der Integration nicht überzeugt ist, sondern schlicht, weil Personen mit Behinderung eine Minderheit der Arbeitssuchenden in der Schweiz sind und Arbeitgebern teilweise Ressourcen oder Kenntnisse fehlen. Vom Mehrwert ist aber auch er überzeugt: «Wir sehen immer wieder im Bereich der interinstitutionellen Zusammenarbeit, wie Inklusion funktionieren kann und wie sie eine Bereicherung ist für die Betriebe.»
Die interinstitutionelle Zusammenarbeit ist ein Schlüsselwort in der Diskussion um Inklusion, wie auch Ege betont: «Es ist extrem wichtig, dass die verschiedenen Institutionen zusammenarbeiten.»