Volkskrankheit Einsamkeit: Warum viele Schaffhauser alleine sind

Einsamkeit ist auf dem Weg zur Volkskrankheit - und das trotz wachsender Vernetzung durch soziale Medien. Woran liegt das?
Einsamkeit in der Schweiz
Mehr als ein Drittel der Menschen in der Schweiz fühlt sich manchmal bis sehr oft einsam. Diese Zahlen gehen aus einem Bericht des Schweizer Gesundheitsobservatoriums (Obsan) hervor. Frauen sind dabei häufiger davon betroffen als Männer. Während vier von zehn Frauen sich als einsam bezeichnen, ist es bei den Männern weniger als jeder Dritte.
Betrachtet man Auswertungen der gängigen Single-Plattformen, fällt meistens eines auf: Diese verdienen sich eine goldene Nase. Trotz teilweise sündhaft teurer Abos können sich diese Anbieter Jahr für Jahr über eine wachsende Nutzerschaft freuen – sucht man dann nach Personen in Schaffhausen, merkt man sehr schnell: Auch im Kanton sehnen sich viele Menschen nach einer Partnerschaft. Oft liest man dann das Wort «einsam» in den Profilen.
Das deckt sich auch mit der Statistik, die von der Stadt Ende letzten Jahres rausgegeben wurde. Demnach gibt es derzeit knapp 13‘300 Ein-Personenhaushalte im Kanton. Es ist nicht gesagt, dass diese Personen einsam sind, aber ein Trend ist dabei deutlich zu erkennen: Man ist eher für sich. Das «Alleinsein», laut der Wohnstatistik, hat für viele einen grösseren Stellenwert als eine «partnerschaftliche Beziehung». Zwar gibt es gleichzeitig 25‘000 Zwei-Personen Haushalte, aber trotzdem: Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft, wie auch in Schaffhausen, ein wachsendes Problem.
Noch düsterer sehen die Zahlen für die Stadt Schaffhausen aus: Bedenkt man, dass es laut Statistikamt derzeit knapp 17‘000 Haushalte in der Stadt gibt, dann ergeben die Zahlen einen Prozentsatz von 40,21%(!). Mit anderen Worten: Etwas mehr als jeder dritte Schaffhauser lebt alleine.
Was ist Einsamkeit und was kann sie bei uns auslösen?
Natürlich muss nicht jeder Mensch, der in einem Ein-Personen-Haushalt lebt, automatisch einsam sein – aber eine solche Lebensform begünstigt dies. Evolutionär gesehen ist Einsamkeit nämlich nicht vorgesehen, wie die Schaffhausern Psychologin Barbara Bickel erklärt. «Grundsätzlich ist der Mensch nicht dazu geschaffen, allein zu sein, denn er hat eine hohe Bindungsmotivation angeboren.» Ähnlich sieht es auch Dieter Böhm. Er ist Bereichsleiter für Sozialpsychiatrie im Psychiatriezentrum Breitenau. «In Beziehung zu Menschen zu stehen nimmt einen sehr grossen gesellschaftlichen Stellenwert ein.» Eine Partnerschaft stelle seiner Meinung nach «ein Ideal» dar, welches man erreichen wolle. Mit diesem Wissen im Hinterkopf «können Einsame sich selber in Frage stellen oder abwerten.» Das wiederum verstärkt das Gefühl der eigenen Einsamkeit - und macht die Situation für die betroffenen noch schwieriger.
Johann Wolfgang von Goethe umschrieb es mal so:
«Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt.»
Dieser Faktor hat auch laut den Experten einen hohen Stellenwert. Beispiel introvertierte Personen: «Introvertierte Personen leben oft bewusst Phasen des Alleinseins, ohne sich dabei einsam zu fühlen», erklärt Bickel. Diese selbstgewählte Art der Isolation kann aber nicht nur für Menschen angenehm sein, die auch sonst gerne für sich sind. «Selbstgewählte Einsamkeit kann auch eine vorübergehende Lebensphase sein», meint Böhm. Wenn zum Beispiel ein Mensch sich entscheidet, eine Weile Abstand von der Welt zu nehmen und zum Beispiel über einen Sommer auf eine Alp zu ziehen.
Auch hier findet man eine wichtige psychologische Unterscheidung: Es gibt einen Unterschied zwischen «Alleine sein» und «Einsam sein». Während alleine zu sein oft viele positive Aspekte haben kann, wie dass man seinen eigenen Gedanken nachgehen und die Ruhe geniessen kann, ist es auch möglich, dass das Gefühl schnell negativ besetzt wird. Dies geschieht, laut Bickel, wenn «man sich sozialen Anschluss oder einen Partner wünscht und diese Wünsche nicht befriedigt werden können.» Dann erlebe man das Alleinsein als «negativ und fühlt sich eben einsam.»
Fast jeder hat diese Problematik in seinem Leben bereits erlebt: Plötzlich wird das Alleinsein druckvoll. Die Gedanken schwenken in eine düstere Richtung und der persönliche Verlust, der vielleicht einer Einsamkeit vorausgegangen ist, rückt immer stärker in den Vordergrund.
Dann erscheinen Ereignisse, die zu diesem Zustand der «Einsamkeit» geführt haben, in einem ganz anderen Licht - einfach, weil sie oft auch ein Ausweg aus der gefühlten Einsamkeit darstellen könnten.
Ein Beispiel: Ein Ehepaar lässt sich scheiden. Beide wissen, dass sie keine Zukunft mehr haben. In einsamen Momenten kann es dann aber dazu kommen, dass beide sich plötzlich nach einem Ausweg aus dieser Situation sehnen. Die Probleme, die zu der Trennung geführt haben, sind dann plötzlich nebensächlich: Es gibt nur noch den Wunsch, diesem negativen Gefühl zu entkommen – und ein Ex-Partner ist dabei die naheliegendste Möglichkeit. Schliesslich gab es dort Vertrautheit und man weiss woran man ist – oft wider besseren Wissens.
Warum es immer mehr Einsamkeit gibt
Eine weitere Zahl zeigt ganz deutlich den Paradigmenwechsel und die wachsende Einsamkeit: So betrug die durchschnittliche Personenzahl im Haushalt in der Schweiz 1960 noch ungefähr 3,0 Personen. Heute sind es im Schnitt 2,2.
Neben den Geburtenrückgängen gibt es laut der Psychologie auch andere Gründe, die dazu geführt haben. Da «die geographische und soziale Mobilität sehr hoch ist, sind die Bindungen des Menschen flüchtiger geworden», sagt zum Beispiel Bickel. «Mit der Zunahme der Mobilität steigt auch die Individualisierung der Werte.» Mit anderen Worten: Man denkt mehr an sich.
Auch eine eigentlich sehr positive Entwicklung der letzten Jahre begünstigt ironischer Weise die Einsamkeit: So war es früher klar, dass der Mann arbeiten geht und das Geld nach Hause bringt, während die Frau sich um die Kinder kümmert und das Haus in Stand hält. Diese strikte gesellschaftliche Ordnung existiert heute nicht mehr in dem Masse wie früher. «Was früher gesellschaftlich vorgegeben war, ist heute optional», sagt Bickel.
Was früher gesellschaftlich vorgegeben war, ist heute optional.
Barbara Bickel, Psychologin
So positiv diese Entwicklung in unserer Gesellschaft daher ist, so schwerwiegend kann sie sich doch auf Beziehungen und Menschen auswirken. Die Sehnsucht nach Autonomie und Selbstbestimmung fördert nämlich in hohem Masse auch die Notwendigkeit, sich mit einem Partner und anderen Menschen auseinanderzusetzen. «Nicht alle können das gleich gut. Viele scheitern dabei und haben deshalb nur sehr instabile Bindungen», so Bickel. Die Folgen: Single zu sein wird immer attraktiver, auch weil es einfacher ist – mit den Folgen, dass die Gefahr von Einsamkeit immer grösser wird.
Da helfen auch soziale Netzwerke nichts, denn auf diesen kann man zwar Kontakt finden, aber die Übertragung ins wirkliche Leben fällt vielen Menschen schwer.
Aber auch Krankheiten können ein Grund für Einsamkeit sein. «Hauptsächlich denke ich, ist es eine schicksalhafte Entwicklung, die zur Einsamkeit führt», sagt Dieter Böhm. So können laut ihm auch «psychischen Störungen» ein Grund sein, dass ein Mensch in die Einsamkeit abgleitet. «Diese treten meist früh im Leben in Erscheinung» genaugenommen: «Oft noch vor dem 30. Lebensjahr oder kurz danach» - und sind nicht nur für die Betroffenen schwierig. Auch die Partnersuche wird dadurch massiv erschwert. Nur wenige Menschen sind bereit, sich auf erkrankte Menschen einzulassen, die zum Beispiel an «Schizophrenie oder einer manisch depressiven Erkrankung» leiden.
Aber auch «weniger» schwerwiegende Erkrankungen können Einsamkeit begünstigen. Leidet ein Mensch zum Beispiel an Panikattacken oder einer sozialen Phobie ist ein Rückzug von der Gesellschaft fast vorprogrammiert. Ehe sowas auftritt, sollte man sich laut den Experten psychologischen Rat holen.
Was, wenn die Einsamkeit nicht verschwindet?
Einsamkeit ist ein unangenehmer Zustand, aber er muss nicht von Dauer sein.
Die Psychologin Barbara Bickel: «Mein Ratschlag gegen Einsamkeit ist simpel: sich sozialen Anschluss suchen!» Ähnlich sieht es auch Dieter Böhm: «Je mehr man sich um Mitmenschen bemüht, umso häufiger wird man kontaktiert.» Das ist auch sehr wichtig, denn: Einsamkeit ist nicht nur unangenehm, sondern kann auch schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Betroffenen haben. So ist bei einsamen Menschen die «Gesundheit schlechter, sie haben eine kürzere Lebenserwartung und sie werden öfter depressiv.» Kommt es während einer Einsamkeit zudem zu einer Lebenskrise, wie dem Verlust des Jobs oder einer Krankheit, fehlen diesen Personen wichtige Bewältigungsressourcen, «weshalb dann oftmals suboptimale Lösungen gefunden werden.» Diese können eine Drogensucht oder ein schädliches Verhalten sein.
Daher sei es wichtig, dass man öfter auch Orte aufsucht, an dem man die Gelegenheit hat, Menschen zu treffen. Denn wie sagte der französische Dichter Adelbert von Chamisso:
Allein zu sein! Drei Worte, leicht zu sagen, und doch so schwer, so endlos schwer zu tragen.