Er brach zu einer Reise auf und kam nie wieder

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Der Wind zerzaust sein Haar, während Markus Stamm, der ein begabter Musiker war, Flöte spielt.

«Jungle» heisst ein neuer Film, in dem es um vier Männer geht, die sich Anfang der Achtzigerjahre in den Urwald von Bolivien aufmachen. Zwei davon sind bis heute verschollen – darunter Markus Stamm, der Halbbruder von Cornelia Stamm Hurter.

Text: Maria Gerhard, Bilder: Kevin Gale

Die unzähligen Farne, Moose und Schlingpflanzen sind in leichten Dunst gehüllt. Auf einem der hohen Bäume hüpft ein Tukan von Ast zu Ast. Unter ihm schlagen sich vier Gestalten durch das Dickicht, es fällt wenig Licht auf ihre Gesichter. Das grüne Dach über ihnen lässt nur an wenigen Stellen die Sonne durch. Trotzdem erkennt man, dass ihre Stirn und das Haar mit Schweiss benetzt sind, Dreck klebt an ihren Wangen und dem Kinn. Immer wieder rutscht einer aus. Der Boden ist matschig und aufgeweicht. Es ist Anfang November 1981, im bolivianischen Teil des Amazonas hat die Regenzeit eingesetzt. Diese Szene ist aus dem Film «Jungle», der letztes Jahr in die deutschen Kinos kam und den es nun auch zum Ausleihen in der Schweiz gibt. So ähnlich muss es aber auch gewesen sein, als sich damals die Reisegefährten Yossi Ghinsberg aus Israel, Kevin Gale aus den USA und Markus «Märi» Stamm aus der Schweiz, aus Schaffhausen, durch den Dschungel gequält haben. Geführt wurden sie auf ihrer Expedition von dem Österreicher und vermeintlichen Geologen Karl ­Ruprechter. Mit viel Enthusiasmus waren sie aufgebrochen, doch es endete in der Katastrophe. Der Österreicher und Stamm gelten bis heute als verschollen.

 Markus Stamm (l.) und Kevin Gale spielen während ihrer Reise Domino.

Ein einnehmendes Wesen

Der Film basiert auf dem Buch «Amazonas – Vier Männer in der Falle» von Yossi Ghinsberg, das dieser einige Jahre nach seinem Entkommen aus dem Urwald geschrieben hat. Die Hauptrolle, eben die des Yossi Ghinsberg, hat Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe übernommen. Stamm wird von dem Australier Joel Jackson gespielt, rein äusserlich haben sie nicht viel gemeinsam. Es gibt alte Fotos von der Südamerikareise, die Stamm angetreten hat, um seinen Horizont zu erweitern. Eines transportiert wunderbar die Atmosphäre von Aufbruch, aber auch von Gegenwärtigkeit: Irgendwo, vielleicht in der Atacamawüste, sitzt der damals 28-Jährige auf der Ladefläche eines Kleinlasters und spielt auf seiner Flöte. Der Fahrtwind zerzaust sein Haar. Er wirkt konzentriert, in sich gekehrt. Ghinsberg beschreibt Stamm in seinem Buch: «Er hatte ein einnehmendes Wesen, und im Nu waren wir alle miteinander bekannt, sprachen miteinander und scherzten wie er.»

Giftige Schlangen und Piranhas

So hat auch Rainer Stamm seinen Bruder gekannt. Er war 33 Jahre alt, als dieser verschwand. Das Auswärtige Amt in Bern hatte die Familie informiert. «Parallel dazu kam auch ein Brief von Kevin Gale, in dem er uns beschrieb, was geschehen war», sagt Stamm, bei dem damals, nach dem Vorfall, alle Fäden zusammenliefen. Er hat die Korrespondenz, auch die mit den Ämtern, bis heute aufbewahrt. Fein säuberlich hat er alles, was mit seinem Bruder zu tun hat, in einem dicken Ordner aufgehoben. Dieser liegt nun vor ihm auf dem Esszimmertisch in seiner Wohnung in Stein am Rhein. Damals hat er sich auch mit einem Geschäftsmann aus La Paz ausgetauscht, der seinen Bruder vor der Reise in den Dschungel noch getroffen hatte. «Der hat ihn gewarnt», sagt Stamm, «der hat ihm gesagt, dass er sich in Lebensgefahr begibt.» In der Regenzeit schwellen im Amazonas die Flüsse an, und so kann selbst ein Rinnsaal plötzlich zu einem reissenden Gewässer werden. Durch die Feuchtigkeit kommt es vermehrt zu Erd­rutschen. «Ganz abgesehen von den giftigen Schlangen, den Krokodilen und den Piranhas», sagt Stamm. Trotzdem muss er sagen: «Mein Bruder wusste genau, worauf er sich einliess.»

«Der Märi hat genau gewusst, auf was er sich da einlässt.» Rainer Stamm, Bruder

Doch Markus Stamm, einst Kaderspieler des EHC Schaffhausen und Primarlehrer in Dörflingen, schien zu dieser Zeit eine persönliche Krise zu durchleben. Seine langjährige Freundin, die ihm noch nach Südamerika nachgereist war, hatte sich frisch von ihm getrennt. «Das hat meinen Bruder sehr getroffen», sagt Stamm. Eigentlich habe er in seinen Briefen immer davon geschrieben, dass er um die Weihnachtszeit wieder nach Hause komme. Doch stattdessen machte er sich mit seinen Begleitern, die er erst kurz kannte, auf in fast unberührtes Land.

Spannungen in der Gruppe

Die ersten paar Tage müssen sie auch so erlebt haben, als würden sie einen anderen Planeten betreten: ganze Schwärme bunter Schmetterlinge die sich auf Schlammbänken von abgelagerten Mineralstoffen nähren. Und dann die Geräusche. «Nachts ist der Lärm im Dschungel unglaublich. Es gab Momente, in denen es schien, als wären wir im Zentrum eines Industriegebietes. Karl erklärte uns, dass das nur Insekten und Vögel wären», schreibt Ghinsberg im Buch. Gleichzeitig kündigt sich aber auch rasch das Unheil an. Mehrmals müssen sie Gewässer überqueren: «Der Fluss war tief. Das Wasser reichte mir bis zur Brust. Wir hatten unsere Schuhe um den Hals gehängt. Karl hatte ein paar dicke Äste von den Bäumen geschnitten und zeigte uns, wie wir den Strom durchwaten konnten, indem wir die Stöcke in den steinigen Boden steckten, um uns gegen die Strömung abzustützen.» Unter solchen Extremen nehmen die Spannungen in der Männergruppe rasch zu. Yossi Ghinsberg und Markus Stamm, die von allen am besten befreundet waren, entzweien sich langsam.

 

In der Regenzeit können im Amazonasgebiet selbst Rinnsale zu reissenden Flüssen werden.

Da hilft es auch nicht, dass Stamm mehr und mehr zur Last wird. Seine Füsse, die durch die ständige Feuchtigkeit aufgeweicht sind, sind von einer Art Fusspilz befallen. Im Film lehnt sein Charakter an ­einer Böschung, zieht die Schuhe aus: Die Füsse blutig, übersät mit offenen Wunden. Er hat ständig Schmerzen, und auch sonst geht es ihm nicht gut. Kevin Gale hat später einmal seinem Bruder Rainer Stamm anvertraut: «Der Markus war ein toller, lieber Mensch, aber als er in den Dschungel ging, war er eine ganz andere Person. Er hat gelitten.» Und die Affen taten ihm leid, die die Männer jagen mussten, weil die Vorräte zur Neige gingen. Er weigerte sich, das Fleisch zu essen, was ihn zusätzlich schwächte.

Die Gefährten trennen sich

Die Situation spitzt sich zu. Der ständige Regen laugt die Männer aus. Was tun? Weitergehen? Oder umdrehen und den weiten Weg zurückgehen zum letzten Indiodorf? Nach Meinungsverschiedenheiten über die künftige Marschroute trennen sich letztlich die vier an der Stelle, wo das schlammbraune Wasser des Ipurama in den grünen Rio Tuichi fliesst. Der Israeli und der Amerikaner wollen Letzteren mit einem selbst gebauten Floss hinabfahren. So war es auch zu Beginn der Reise schon geplant. Doch unter den gegebenen Umständen erscheint es als ein riskantes Abenteuer. Markus Stamm und der Österreicher, der wohl nicht schwimmen konnte, wollen sich hingegen zu Fuss zum nächsten Dorf durchschlagen.

Die Vorahnung, dass die Wasserfahrt zu riskant sei, bewahrheitet sich schliesslich: Der Amerikaner und der Israeli kentern mit ihrem Floss schon am ersten Tag, wobei der eine von ihnen von den reissenden Wassern so weit fortgespült wird, dass sie sich nicht wiederfinden. Wie durch ein Wunder wird Kevin Gale nach einer Woche von zwei Jägern aufgelesen und in die ­«Zivilisation» zurückgebracht. Er ist es schliesslich, der alle Hebel in Bewegung setzt, dass nach seinen Gefährten gesucht wird.

Umherirren im Urwald

Zwei Wochen irrt Yossi Ghinsberg allein durch den Urwald, ernährt sich unter anderem von Beeren und einer Schlange, wie er schreibt: «Ich hob den grünen Körper auf und schälte die Haut ab wie bei einer Banane, wodurch das rosa Fleisch zum Vorschein kam. Die inneren Organe beseitigte ich mit einem kräftigen Druck meiner Finger und hielt nun das reine Fleisch in Händen. Was sollte ich damit tun? Essen oder als Köder benutzen?» Er hat Wahnvorstellungen und dann wieder ganz klare Momente. Sein Körper schmerzt, seine Füsse sind nun auch überall aufgerissen und blutig. Als er gefunden wird, ist er nur noch Haut und Knochen: Kevin Gale fährt mit einem Einheimischen per Kanu den Fluss hoch und entdeckt ihn an einem Ufer.

 Kevin Gale, ein Einheimischer und Yossi Ghinsberg (v. l.) nach dessen Rettung.

Doch was ist aus dem Führer Karl Ruprechter geworden und aus Markus Stamm? Sie haben das Dorf nie erreicht. Bis heute gelten sie als verschollen.

Mit seinem heutigen Wissensstand und dem, was er in Filmen und auf Fotos gesehen hat, wundert sich Bruder Rainer Stamm darüber nicht mehr. «Es ist verrückt», sagt er, «das Gebiet ist so unwirtlich.» Ghinsburg, sobald er sich erholt hat, startet zwar noch eine Rettungsaktion, aber ohne Erfolg. Ebenso ergebnislos bleiben alle Nachforschungen bei Indios und Missionaren, die in der Region wohnen.

Amtlich verschollen

Nach allem was man zusammengetragen hat, muss als wahrscheinlichste Variante angenommen werden, dass den beiden ein Unglück zugestossen ist. So wurde es auch der Familie von Markus Stamm auf dem Auswärtigen Amt in Bern mitgeteilt. «Die haben uns auch gesagt, aus ihrer Erfahrung heraus: Der lebt nicht mehr», sagt Stamm. Sein Vater habe das akzeptiert und ein Gesuch um die Einleitung des Verschollenenverfahrens gestellt. «Er hat natürlich gelitten, aber er war realistisch», sagt Stamm. Seine Mutter habe sich hingegen damit sehr schwergetan. Sie war der festen Überzeugung, dass ihr Sohn noch lebt. Und damit war sie nicht allein. Auch die Halbschwester von Markus Stamm, die gewählte Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter, hat noch lange gehofft. Sie kann sich noch gut an den «Märi» erinnern: «Er war ein guter Bruder, ein Sunnyboy, mit langem, lockigem Haar.» In Schaffhausen sei er als mehrfacher kantonaler Tennismeister recht bekannt gewesen. Als die Meldung über sein Verschwinden gekommen sei, habe sie gerade in Fribourg ihr Studium aufgenommen. Es sei eine schwierige Zeit für die Familie gewesen.

«Er hatte ein einnehmendes Wesen, und im Nu waren wir alle mit­einander bekannt, sprachen miteinander und scherzten wie er.»

Da war es wohl auch nicht schön, dass das Geschehen über die Jahre immer wieder neu diskutiert wurde. Weitere Details kamen ans Tageslicht: So soll der Österreicher Karl Ruprechter nur vorgegeben haben, Geologe zu sein. Tatsächlich habe er eine kriminelle Vergangenheit und sei auf der Flucht gewesen. Gleichzeitig kamen Gerüchte auf, er sei gar nicht tot. Es gibt ein Foto, wo ein Mann, scheinbar Ruprechter, gerade auf ein Lastenpferd steigt. Es soll drei Jahre nach seinem Verschwinden aufgenommen worden sein. Doch Rainer Stamm bezweifelt das. Er glaubt nicht, dass Ruprechter noch lebt, genau wie sein Bruder.

Ausserdem bekommt seine Familie Besuch von dem Israeli Yossi Ghinsberg. Er schildert ihnen die Geschehnisse noch einmal. Er scheint ein schlechtes Gewissen zu haben, dass er Markus Stamm zurückgelassen hat. Er plant eine weitere Suchaktion. Daraus wird aber nichts. Dafür schreibt er das Buch, das in Isreal ein Bestseller wurde. Rainer Stamm ist auf Ghinsberg jedoch nicht allzu gut zu sprechen: «Er hat uns nicht informiert, dass er das Buch veröffentlicht, und auch von dem Film ‹Jungle› wussten wir nichts», sagt er. Er habe erst von einem Bekannten erfahren, dass die Geschichte seines Bruders verfilmt werde. Und auch wenn der Film recht spannend sei, würden doch wichtige Szenen fehlen. «Am Ende etwa, wird nicht darauf eingegangen, dass Ghinsberg ohne den Amerikaner Kevin Gale gar nicht mehr leben würde», sagt er. Dieser habe sich ­allen Zweiflern widersetzt, die seine Gefährten bereits für tot erklärt hätten. Das müsse man doch honorieren. In dem Film liege der Fokus zu stark auf Ghinsberg. Dabei seien es doch vier Männer gewesen, die versucht hätten, der Hölle zu entkommen.

 Schön, aber gefährlich: Im Urwald lauern viele Gefahren, von Jaguaren bis zu Krokodilen.

Die Mutter von Markus Stamm lebt mit 95 Jahren noch in Schaffhausen. Sie hat bis heute nicht aufgehört, daran zu glauben, dass ihr Sohn noch lebt. Zu Rainer Stamm sagt sie ab und zu: «Irgendwann kommt der schon mal wieder.» Seine letzten Briefe aus Südamerika hat sie jedenfalls alle aufgehoben.

Fingerspitzengefühl bei der Suche nach Vermissten

Der Suchdienst der Sektion Konsularischer Schutz im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schreitet überall dort ein, wo Personen einen Angehörigen im Ausland vermissen und wenn diese ungefähr wissen, in welchem Land sich die gesuchte Person befindet. Es wird nachgeforscht, ob diese Person bei der diplomatischen Vertretung gemeldet ist, ob sie dort wohnt oder auf der Durchreise war und mit wem sie in Kontakt getreten ist. Koordiniert werden die Nachforschungen von den Schweizer Botschaften und den diversen Konsulaten vor Ort. Für die eigentlichen Nachforschungen zuständig sind die lokalen Polizeibehörden.

Hohe Erfolgsquote

Viele Schweizer, die als vermisst gemeldet werden, können wieder gefunden werden. Das liegt vor allem daran, weil es in der heutigen Zeit mit den modernen Telekommu­nikationsmitteln im Trend liegt, schnell Vermisstmeldungen aufzugeben, wenn sich eine Person mal ein paar Tage nicht meldet. So können die Behörden aber auch schnell reagieren. Es gibt jedoch auch schwierige Fälle, die nach jahrelangen Nachforschungen zu keinem Erfolg führen. Das Dossier wird dann geschlossen, ohne dass die vermisste Person gefunden werden konnte. Nachforschungen im Ausland erfordern laut dem EDA viel Fingerspitzengefühl auf verschiedenen Gebieten: mit den Angehörigen der vermissten Person, dann mit den Behörden vor Ort, aber auch mit Nichtregierungsorganisationen, die bei der Suche mithelfen. Die Kosten für die Nachforschungen gehen in der Regel zulasten der Angehörigen. Das EDA kann die Gebühren aus humanitären Gründen allerdings reduzieren oder gar erlassen. (mcg)

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