Seine Heroinsucht hat er nie überwunden
Als einer der Ersten nutzte Ulrich Gerber vor 15 Jahren die Heroingestützte Behandlung (HeGeBe) der Spitäler Schaffhausen. Zweimal am Tag holt er sich in der Hochstrasse Heroin. Erst hinter Gittern hat er angefangen, Drogen zu konsumieren.
Jubiläum: Heroinabgabe seit 15 Jahren
Ab 1990 nahm die Drogenszene auch in Schaffhausen zu. Es bildete sich eine Subkultur von Menschen, die den Weg zu den Hilfsangeboten nicht mehr fanden. Die «Szene» fand vor allem in der Repfergasse statt. Neben der Einrichtung eines Rückführungszentrums wurden auch Versuche mit ärztlich verschriebener Heroinabgabe gestartet. Der einstige Leiter des Vereins für Jugendfragen, Prävention und Suchthilfe, Christoph Roost, initiierte das Projekt für eine eigene Heroingestützte Behandlung (HeGeBe).
Mit 54 Prozent hatte die städtische Stimmbevölkerung im Jahr 2001 das Projekt gutgeheissen, das im Rahmen der Vier-Säulen-Drogenpolitik (Prävention, Therapie, Repression, «Schadensminderung» mit Methadon- oder Heroinabgabe) vom Bund unterstützt wird.
Das Angebot richtet sich an Heroinsüchtige, die bereits mehrere alternative Therapien erfolglos abgebrochen haben und in hohem Masse von sozialer Verelendung bedroht sind. Die Erfolge der HeGeBe sowie der begleitenden therapeutischen Massnahmen liegen in der Verbesserung der körperlichen und der psychischen Gesundheit. Ausserdem können so schwere Infektionskrankheiten, wie HIV, der Behandlung zugeführt werden.(mcg)
Ulrich Gerber* hat schon immer gerne mit seinen Händen «geschafft»: ob als Schweisser auf der Baustelle oder daheim, wenn er schreinert. Auch später, als er in seinen Zwanzigern für zehn Jahre ins Gefängnis, ausserhalb des Kantons, musste – er hatte in Zürich bewaffnet eine Bank überfallen –, hat er weiter mit Holz gearbeitet. Ein Wärter hat das irgendwann gesehen und bot ihm an, seine Kunstwerke ausserhalb des Gefängnisses für ihn zu verkaufen. Dafür bekam Gerber Heroin. Hinter Gittern hätten ganz eigene Gesetze geherrscht. Es war der Ort, an dem Gerber gelernt hat, Gitarre zu spielen und Drogen zu konsumieren.
Gescheiterter Entzug
Gerber, der hier im Kanton lebt, ist heute fast 50 Jahre alt. Seit 15 Jahren nimmt er die Heroingestützte Behandlung (HeGeBe) in Schaffhausen in Anspruch. Damit war er einer der Ersten, die das 2002 gestartete Projekt, das eine ärztlich verschriebene Heroinabgabe für Menschen vorsieht, deren Chance auf einen Entzug sehr gering ist, nutzten. Nach drei gescheiterten stationären Entzugsbehandlungen hat er sich selbst angemeldet. «Das war die einzig richtige Entscheidung», sagt er heute. So habe er – trotz seiner Sucht – jeden Tag seiner Arbeit als Schlosser nachgehen können. Probleme mit der Polizei gehörten ab diesem Zeitpunkt der Vergangenheit an. «Die Betreuung hier ist sehr gut», sagt er. Man bekomme immer Hilfe und Unterstützung, wenn man sie brauche.
Gerber sitzt im Büro von Janine Stotz, die Sozialarbeiterin ist die Leiterin der HeGeBe an der Hochstrasse. Während Gerber erzählt, ruht sein Blick auf der Tischplatte. Die rauen Hände, denen man ansieht, dass sie im Leben viel gearbeitet haben, zittern leicht. Früher hat er neben dem Heroin noch Kokain konsumiert. Auch noch in den ersten zwei Jahren, als er bereits die HeGeBe in Anspruch nahm. Der Nebenkonsum von anderen Drogen ist bei den Menschen hier keine Seltenheit. Aus Scham oder vielleicht auch aus Angst sprechen sie nicht gerne darüber. Für die Mitarbeiter ist es jedoch wichtig, zu wissen, welche Substanzen die Frauen und Männer noch konsumieren. Je nachdem muss nämlich die Heroindosis angepasst werden, damit es am Ende zu keiner kritischen Situation kommt, zum Beispiel zu einem Atemstillstand.
Ein kleiner schwarzer Krater
Für Gerber war es nicht leicht, vom Kokain loszukommen. Doch eine Erfahrung hat ihn motiviert: In seinem Haus wohnte er mit einem Drogendealer Tür an Tür. «Er war selber süchtig, und ich habe nach und nach miterlebt, wie das Kokain ihn kaputtgemacht hat», sagt Gerber. Der Mann sei regelrecht vor seinen Augen zerfallen. Da hat Gerber eines Tages in seinen Badezimmerspiegel geschaut und sich gefragt: «Warum tust du dir das an?» Ein Entschluss reifte in ihm. Ohne die Unterstützung seiner Familie hätte er es aber vielleicht nicht geschafft. Bezüglich seiner Sucht hat er auch vor seinen Eltern nichts verheimlicht, das war vielleicht sein Glück.
Was seine Heroinsucht angeht, die hat Gerber nie überwinden können. Jeden Tag kommt er einmal am Morgen und einmal am Abend an die Hochstrasse. Fünf Franken muss jeder Teilnehmer – das ist eher symbolisch – pro Tag zahlen. Hier wäscht er – ganz nach den Regeln – zunächst gründlich seine Hände. Anschliessend geht er an die Theke und bekommt eine Spritze sowie die für ihn berechnete Heroindosis. Gerber sticht fast immer an der gleichen Stelle ein, an seinem linken Handgelenk. Ein kleiner schwarzer Krater klafft dort. «Ich treffe immer die Vene», sagt Gerber und lächelt, dabei legt er den Kopf leicht schief, so, als würde er sich nach all den Jahren noch selbst darüber wundern. Bei den meisten Heroinabhängigen sind die Venen am ganzen Körper von den vielen Einstichen beschädigt. Manche gehen dann dazu über, das Heroin zu schlucken. «Die Wirkung ist aber nicht ganz so stark», sagt Gerber. Im Gefängnis habe er zunächst das Heroinpulver geschnupft, weil Einstiche am Körper dem Personal irgendwann aufgefallen wären.
An sein erstes Mal kann er sich noch gut erinnern, auch wenn er etwas überlegen muss, wie sich die Wirkung überhaupt in Worte fassen lässt: «Es ist schwierig. Du fühlst dich plötzlich wie im siebten Himmel.» Vielleicht war es bereits dieser Moment, in dem Gerber süchtig wurde. Denn von kaum einer anderen Droge als Heroin wird man so schnell abhängig. Seit über 20 Jahren bestimmt diese Substanz mehr oder weniger Gerbers Leben. Wenn er das Gebäude an der Hochstrasse verlässt, gibt seine Verlangen danach vielleicht für ein paar Stunden Ruhe. Bis er sich wieder auf den Weg machen muss.
*Name von der Redaktion geändert
Nachgefragt: Dieter Böhm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
«Uns kommt so etwas wie eine Dolmetscherfunktion zu»
Als Leitender Arzt der Sozialpsychiatrie ist Dieter Böhm verantwortlich für die der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie angeschlossenen Heroingestützte Behandlung (HeGeBe). Seit es das Programm gibt – es wurde vor 15 Jahren ins Leben gerufen –, betreut er neben Sozialarbeiterin Janine Stotz, sie leitet die HeGeBe seit 2014, sowie sechs weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem Psychologen die Einrichtung an der Hochstrasse. Dreimal in der Woche ist er vor Ort und kümmert sich um die psychische und physische Gesundheit der elf Frauen und elf Männer, die das Programm nutzen. Das Programm wird aber über die Krankenkasse und über Subventionen finanziert.
Seit 15 Jahren gibt es nun die HeGeBe. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Dieter Böhm: Über die letzten Jahre hinweg haben wir eine fast konstante Gruppe an Frauen und Männern betreut. Durchschnittlich sind die Personen über 40 Jahre alt. Im Vergleich zu der Startphase geht es heute weniger um Drogenkriminalität, prekärer sind die zum Teil schweren körperlichen Erkrankungen. Bei vielen zeigt der ungesunde Lebensstil über die Jahre hinweg nun seine negativen Auswirkungen. Dabei pflegen wir einen guten Austausch innerhalb der Spitäler Schaffhausen und mit den Hausärzten. Das ist sehr wichtig. Manche der Frauen und Männer haben ihre Kassenprämie nicht mehr gezahlt und trauten sich deshalb nicht mehr, zu ihrem Arzt zu gehen. An dieser Stelle kommt uns so etwas wie eine Dolmetscherfunktion zu. Wir sorgen dafür, dass sie wieder eine Krankenversicherung haben, und helfen ihnen dabei, die Behandlungsrichtlinien ihres Hausarztes umzusetzen. Wenn jemand etwa an Bluthochdruck leidet, sind wir hinterher, dass derjenige regelmässig seine Medikamente nimmt, und überprüfen in Abständen die Resultate, ob die Behandlung anschlägt.
Können Sie etwas zu neueren Entwicklungen sagen?
Böhm: Wir sind sehr froh, dass zehn Personen, die im Programm sind, von einer Hepatitis-C-Behandlung profitieren können. Das neue Medikament wirkt sehr gut. Hier gab es schon einige Erfolge zu vermelden, sogar, dass der Virus im Körper nicht mehr nachweisbar war. Das war auch möglich, weil es bei uns mittlerweile ein Programm zur Früherkennung körperlicher Störungen gibt, innerhalb dessen die Patienten von einem Leberspezialisten, das heisst einem Gastroenterologen, untersucht worden sind. Auf diese Weise sollen körperliche Erkrankungen systematisch erfasst und schwerwiegende Komplikationen frühzeitig erkannt sowie behandelt werden. Dabei geht es neben HIV um chronische Lungenkrankheiten, Knochenschwund bis hin zu Zahnerkrankungen und Erkrankungen der Venen. Letztere sind wegen der ständigen Injektionen mit Spritzen bei Heroinsüchtigen besonders beansprucht.
Der Mann aus unserer Reportage nutzt das Programm seit seinen Anfängen. Besteht nicht die Gefahr, dadurch dass die Droge immer zur Verfügung steht, dass der Anreiz verloren geht, die Sucht zu bewältigen?
Böhm: Die Erfahrungen vor der Zeit der HeGeBe zeigten, dass ein Teil einer, sagen wir, hartnäckigen Gruppe von Patienten nach jeder Entzugs- oder Entgiftungsbehandlung wieder rückfällig wurde. Wir haben Personen mit bis zu 40 stationären Behandlungen angetroffen. Hier können wir – auch durch intensivere Behandlung allein – keine weiteren Resultate mehr erzielen. Weil vielen Personen neben der Sucht wirklich fast alles im Leben weggebrochen ist, benötigt es für eine Rehabilitation eben mehr: eine neue Partnerbeziehung oder ein Arbeitgeber, welcher dazu bereit ist, einem Ex-Junkie einen Arbeitsplatz anzubieten. Einige haben durch die Auswanderung in ein anderes Land etwas verbessern können. Bei einer anderen betroffenen Person waren unter Abstinenzbedingungen regelmässig andere bedenkliche Symptome zum Vorschein gekommen: Sie schnitt sich und erbrach sich regelmässig. Während sie Heroin konsumierte, kamen diese Symptome kein einziges Mal hervor. Da fragt man sich, mit welchem Übel das andere Übel ausgetauscht wurde. Oder anders formuliert: Hier waren wir zu diesem Zeitpunkt am Ende des rehabilitativen Potenzials angelangt. Dann ist weniger eben mehr. Die HeGeBe kennt aber auch Aussteiger. Diese sind nicht in einem Schritt clean geworden, sondern durch den Übertritt in andere Einrichtungen, durch Methadonbehandlungen, Rehabilitation, intensivere Therapieberatung oder eben durch eine Berufsintegration.
Interview Maria Gerhard