Gefangen in der Schuldenspirale
Über 23'000 Betreibungsverfahren wurden letztes Jahr im Kanton eröffnet – ein neuer Rekordwert. Die Gründe für Verschuldungen von Privatpersonen sind vielfältig.
«Schulden belasten die Gesundheit» – die Schuldenberatung hat viel zu tun
Fast parallel zu den steigenden Betreibungsverfahren im Kanton hat die Arbeit der Schuldenberatungsstelle zugenommen. Waren es 2015 noch 409 Einzelberatungen, so stieg die Zahl 2017 auf 596. Die Palette der vom Kanton beauftragten und finanzierten Beratungsstelle des SRK reicht von einfachen Budget- beratungen bis hin zur mehrjährigen Sanierungsbegleitung von verschuldeten Menschen. «Die meisten Klienten kommen erst zu uns, wenn sie bereits mehrfach betrieben wurden und einfach nicht mehr weiterwissen», sagt Co-Leiterin Esther Balsiger. Jede Person könne in eine Überschuldungssituation geraten, aber klar seien viel mehr Leute betroffen, die am Existenzminimum lebten, so Balsiger. «Unsere Klienten haben so zwischen 5 bis 20 verschiedene Gläubiger, aber ich kenne auch zwölfseitige Betreibungsdossiers.»
Im Beratungsalltag zählten etwa Jugendliche zur Risikogruppe, die nach dem Auszug aus dem Elternhaus mit den hohe Fixkosten nicht umgehen könnten. Ferner Alleinerziehende, Menschen nach längerer Krankheit, die nicht wissen, wie es betreffend IV weitergeht, oder solche mit einer tieferen Lohnsituation nach einem Stellenwechsel. «Auch eine Familiengründung, wenn nur ein Ehepartner arbeitet, kann zu einer misslichen Lage führen», sagt Balsiger. «Aber auch Selbständig-erwerbende kommen zu uns, ganz besonders aus der Gastronomiebranche.» Aus ihrer Erfahrung könne sie sagen: «Schulden belasten die Gesundheit.»
Steuern: Elend beginnt oft von vorn
Steuerschulden, nicht bezahlte Krankenkassenprämien und Alimentenschulden gehören zu den alltäglichsten Schuldenarten. Aber: «Die Überschuldung wegen Privatkrediten nimmt drastisch zu. Häufig ist den Menschen gar nicht bewusst, dass sie einen Privatkredit abgeschlossen haben, wenn sie zum Beispiel das Konto überziehen oder einen Handyvertrag abschliessen, sagt Balsiger. Anfallende Gebühren und Zusatzkosten seien oft nicht sofort ersichtlich, und Mahngebühren und Verzugszinsen würden immer öfter zum Thema.«Wir können helfen, Ordnung ins Chaos zu bringen, und stabilisierend wirken», sagt die Beraterin. Die Fachstelle für Schuldenfragen verfügt über 90 Stellenprozente. Stossend findet sie, dass bei Pfändungen die monatliche Steuerrate nicht zum Existenzminimum gerechnet werden darf. «So stehen viele nach der Lohnpfändung gleich wieder vor Steuerschulden, und der Teufelskreis beginnt von vorn. (lbb)
Für 2017 hat das Schaffhauser Betreibungs- und Konkursamt erneut eine Rekordzahl zu vermelden: Insgesamt 23'494 Betreibungen wurden gegen juristische und Privatpersonen eröffnet und haben damit um 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen. 2015 waren es noch 22'726 Betreibungen, ein Jahr darauf 23'055 gewesen. Während in den Regionalstellen Klettgau, Reiat und Stein die Betreibungen leicht sanken, legten sie in Schaffhausen – dazu zählen auch Neuhausen und Beringen – um 3,5 Prozent zu.
Pro Tag gehen also im Schnitt mehr als 70 Zahlungsbefehle über seinen Schreibtisch: Laut Benno Krüsi, Leiter des Betreibungs- und Konkursamtes, seien die Betreibungen gegen juristische Personen sowie Firmenkonkurse stabil geblieben, während man vor allem eine Zunahme bei den Privatpersonen feststelle. Und es gebe keine einzelne Gruppe, die heraussteche. «Es betrifft Alte und Junge, Männer und Frauen, Arme und Reiche, Ausländer und Inländer. Im Zwangsvollstreckungsverfahren sind alle gleich», sagt Krüsi.
Sehr oft Steuer- und Prämienschulden
Schwierig zu fassen sei indes auch, wer die Gläubiger sind – nach Kategorien erfasst werden diese beim Betreibungsamt nämlich nicht. Krüsi meint: «Die Zahlungsmoral ist überall dort gut, wo die Menschen einen direkten Gegenwert bekommen, namentlich bei Konsumgütern.» Umgekehrt beobachte man, dass die Leute im höheren Masse bereit sind, sich in abstrakteren Bereichen zu verschulden. «So etwa bei den Steuern und Krankenkassen, bei Versicherungsprämien generell, aber auch bei Gebühren wie etwa der Billag.» Krüsi schätzt, dass rund ein Drittel der Betreibungen aus diesen Bereichen stammt.
«Es ist eine sehr belastende Situation für die Betroffenen.»
Benno Krüsi , Leiter des Betreibungs- und Konkursamts
Dies besonders bei der offenbar wachsenden Zahl jener Menschen, die dann nicht bloss eine Rechnung nicht bezahlen und betrieben werden. Mehrfachbetreibungen sind an der Tagesordnung. Das beobachtet man auch bei der Schaffhauser Schuldenberatung (Artikel rechts). Das könne verschiedene Ursachen haben, sagt der Leiter des Betreibungsamtes. «Wir sind so etwas wie ein Seismograf der Individualisierung und Konsumgesellschaft», sagt Krüsi. Heute werde im Internet schnell auf Rechnung eingekauft. «Drei von vier Autos auf unseren Strassen sind geleast.» Viele junge Schuldner hätten sich in den ersten Jahren als junge Erwachsene massiv verschätzt. «Schulden von fast 100'000 Franken mit 21 Jahren sind nicht so selten, wie man vielleicht meint», so Krüsi. Gerade Menschen in temporären, instabilen Arbeitsverhältnissen verschuldeten sich schnell massiv. «Eine weitere Gruppe sind Leute, die in den Kanton ziehen und in anderen Kantonen schon Betreibungen haben oder zum Teil sogar schon gepfändet wurden.»
Wer zu Unrecht betrieben wird, kann sich mit einem Rechtsvorschlag wehren. In etwa einem Drittel der Betreibungen passiere das, erklärt Krüsi. Wer aber zu Recht betrieben wird und nicht zahlen kann, muss mit einer Pfändung rechnen. Die Zahl der vollzogenen Lohnpfändungen stieg im letzten Jahr auf knapp 10 323, wobei ein Lohn mehrfach gepfändet werden kann. Es wird dann ein Existenzminimum errechnet, und der Rest des Lohnes wird zur Tilgung der Schulden verwendet. Der starke Anstieg der – arbeitsintensiven – Pfändungen aber macht nicht nur dem Leiter des Betreibungsamtes Sorgen. «Es ist eine sehr belastende Situation für die Betroffenen.»Ein weiteres Problem seien Menschen, die Kleinkredite aufnähmen, um Schulden zu zahlen. Diese gerieten immer weiter in die Schuldenspirale hinein. Schlecht findet Krüsi, dass es ein Tabuthema ist. «Wir sprechen in der Schweiz nicht über Lohn und Schulden. Dabei ist bereits der erste Schritt getan, wenn man sich und seinen Nächsten eingestehen kann, dass man ein Schuldenproblem hat und Hilfe braucht.»