Arbeit mit Drogensüchtigen: «Kleine Erfolgserlebnisse müssen genügen»

Daniel Jung | 
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Vorbereitung auf das Mittagessen in der Schaffhauser Gassenküche: der neue VJPS-Geschäftsführer Martin Luck (r.), die Gassenküche-Betriebsleiterin Judith Pallotta und weitere Mitarbeiter. Bild: Bruno Bührer

Die Betreuung von Heroinabhängigen im Tagesraum Schaffhausen steht vor einem grossen Umbruch, weil die Besucherzahlen deutlich zurückgehen. Jetzt ist unklar, wie es dort weitergehen soll.

Einen noch nie dagewesenen Besucherrückgang gab es im letzten Jahr im Tagesraum Schaffhausen (Tasch). Im Tasch können Menschen mit einer Drogenabhängigkeit ihre selbst mitgebrachten Suchtmittel unter hygienischen Bedingungen und unter Aufsicht konsumieren. Während im Jahr 2016 noch 8631 Besuche im Tasch registriert wurden, waren es im ­letzten Jahr nur noch 5008 (–42 Prozent). Im Tagesdurchschnitt sank der Besuch von 24 Personen im Vorjahr auf noch 14 im Jahr 2017.

Der Tasch an der Fulachstrasse 84 ist eines der Angebote des Vereins für Jugendfragen, Prävention und Suchthilfe (VJPS), der seit über 30 Jahren im Kanton Schaffhausen in der Suchthilfe engagiert ist. Der Injek­tionsraum besteht seit 1994.

Vielschichtige Gründe

Warum es im letzten Jahr zum starken Rückgang kam, können die Verantwortlichen nicht genau festmachen. So heisst es im VJPS-Jahresbericht: «Hat es mit den ­Todesfällen zu tun, die tiefe Lücken bei den Besucherinnen und Besuchern hinter­liessen und die Frage aufwerfen, wer der Nächste sein wird? Oder ist es vielleicht der Gedanke: ‹Sollte ich mehr auf meine Gesundheit achten?› Einige haben sich vielleicht aufgegeben, vergraben sich mit depressiven Verstimmungen zu Hause. Vielleicht aber sind die Klienten einfach auch älter geworden und haben ihr Suchtmuster durchbrochen, brauchen den Kick nicht mehr so oft.»

«Der Tasch ist in seiner heutigen Form wohl ein ­Angebot, das am Auslaufen ist.»

Martin Luck, Geschäftsführer VJPS

Auch Martin Luck, seit Januar Geschäftsführer des VJPS, vermutet mehrere Ursachen hinter dem Rückgang. «Es kann sein, dass nicht mehr so viele Menschen in den Tasch kommen, weil sie andere Substanzen konsumieren oder andere Formen des Konsums bevorzugen», sagt er. Weiterhin würden im Tasch pro Tag aber rund 50 gebrauchte Spritzen gegen neue getauscht. «Ganz weg ist es also nicht, das Suchtpro­blem», sagt Luck. Unter den Besuchern des Tasch werde heute nicht mehr exklusiv ­Heroin konsumiert – oft werde mit Kokain oder anderen Substanzen gemischt.

Die Besucher werden älter

Eine Entwicklung ist aber klar: «Es ist ­sicher so, dass die Besucher im Schnitt ständig älter werden», sagt Luck. Aktuell liegt das Durchschnittsalter bei rund 42 Jahren. Weil die Suchtbetroffenen älter sind, sind sie auch gebrechlicher und weniger mobil. Sie benötigen vermehrt medizinische oder psychiatrische Behandlung und soziale Unterstützung. Grundsätzlich ist die Tatsache, dass Menschen mit einer Heroin­abhängigkeit heute älter werden, ein Erfolg des medizinischen Fortschrittes und der Betreuung.

Ebenfalls erfreulich ist die Tatsache, dass Heroin bei jungen Menschen heute weniger hoch im Kurs steht. «Es kommen nicht mehr viele Junge nach, die im Tasch Drogen konsumieren», sagt Luck. Dies liege daran, dass unter Jüngeren andere Substanzen verbreiteter seien und diese in einem anderen Setting konsumiert würden. Beim Tasch bahnen sich deshalb grössere Änderungen an. «Der Tasch ist in seiner heutigen Form wohl ein Angebot, das am Auslaufen ist», sagt Luck. Dies ist aber nicht nur in Schaffhausen so. «Die Zahlen in den Konsumräumen sind in der ganzen Schweiz rückläufig.» Man müsse überlegen, wie man auf die veränderten Bedürfnisse reagiere.

Drogenbetreuung zu Hause?

Der Tasch ist heute unter der Woche von 11 bis 17.30 Uhr und am Wochenende zwischen 12 und 16.30 Uhr geöffnet. «Man muss sich fragen, ob es diese Öffnungszeiten künftig noch braucht», sagt Luck. Weil manche ältere Süchtige nicht mehr sehr mobil seien, sei es etwa eine Möglichkeit, künftig vermehrt Hausbesuche zu machen – in Anlehnung an das Modell der Spitex. In der Region Schaffhausen bestehen derzeit nur wenige längerfristige Wohnmöglichkeiten für Drogenabhängige. Bei solchen Wohnangeboten präsent zu sein, könnte ein neues Auf­gabengebiet für den VJPS werden – dies in Zusammenarbeit mit anderen Stellen. «Wir sind hier im Moment daran, verschiedene Möglichkeiten zu diskutieren», sagt Luck. Aktuell läuft beim VJPS ein entsprechendes Projekt, wobei noch im Laufe des Jahres konkrete Vorschläge präsentiert werden sollen.

Handysucht und Körperkult

Hinter den Veränderungen im Tasch stehen grundsätzlich zwei erfreuliche Entwicklungen: Heroinabhängige Menschen leben länger. Und weniger junge Menschen als früher konsumieren heute Heroin. «Man darf daraus aber nicht ableiten, dass es in unserer Gesellschaft keine Suchtprobleme mehr geben würde», sagt Luck. Das Suchtverhalten sei heute auf viele verschiedene Lebensbereiche verteilt. Gerade der modernen Technik mit Internet und Smartphones wohne ein gewisses Suchtpotenzial inne – andere betrieben einen Körperkult, der suchtähnliche Züge habe. Stärker als früher stehe heute die Idee der Selbstoptimierung im Zentrum. So ist etwa Kokain, das eher als leistungsfördernd gelte und somit besser in die heutige Gesellschaft passe, stärker in den Fokus gerückt.

Die Suchtproblematik ist vielschichtiger geworden. So sei etwa auch der in Hustensäften enthaltene Wirkstoff Codein ein Thema unter Jugendlichen, letztlich aber nur eine Randerscheinung. «Es geht heute nicht mehr um eine einzelne Substanz, die eine ganze Generation besetzt», sagt Luck. Es hätten heute viele verschiedene Suchtmittel ihren Platz in der Gesellschaft. Für den VJPS heisst das, dass er am Puls der Entwicklungen bleiben muss. Das gelingt etwa dank der Präventionsarbeit in den Schulen. «Man muss dort mit einem offenen Ohr zuhören», sagt Luck. «Wenn man in der Suchthilfe tätig ist, muss man sich regelmässig neu erfinden.» Der VJPS müsse sich stets auf die aktuellen Bedürfnisse ausrichten. Das sei auch für die Finanzierung durch Stadt und Kanton Schaffhausen wichtig. «Wir sind Dienstleister an der Gesellschaft», sagt er. Gerade im Bereich der Präventionsarbeit wäre noch mehr möglich, ist Luck überzeugt – hier fehlten dem VJPS aber die dafür nötigen Stellenprozente. «Etwa im Bereich der digitalen Medien besteht ein sehr grosser Bedarf, den wir nur bedingt abdecken können», sagt der 49-Jährige.

Zuletzt in Zürich tätig

Martin Luck ist in Schaffhausen aufgewachsen. In der Firma CMC hat er eine Ausbildung zum Elektromechaniker absolviert. Nach der Lehre merkte er bald, dass er vermehrt mit Menschen arbeiten möchte. Darauf begann er beim städtischen Jugendhaus und Jugendchäller, wo er bereits mit dem Thema Drogen – speziell dem Folienrauchen von Heroin – konfrontiert wurde. Im Jahr 1996 wechselte er nach Zürich, wo er zuletzt als Leiter der Kontakt- und Anlaufstellen für Drogenabhängige tätig war.

Mehrmals hat Luck in Zürich aber auch Unterbrüche eingelegt. «Ich hatte das Gefühl, dass ich genug davon habe, keine wirklichen Fortschritte zu erzielen», sagt er. Letztlich ist ihm die Arbeit mit Drogenabhängigen aber ein grosses Anliegen, obwohl kleine Erfolgserlebnisse genügen müssen. «Um mit Menschen zu arbeiten, die am Rand der Gesellschaft stehen, muss man sie gern haben», sagt Luck. Man werde sich immer wieder bewusst, wie wenig es in einer Biografie brauche, damit sie eine dramatische Wendung nehme. «Diese Menschen sind nicht die schlechteren Menschen», ist er überzeugt.

Nun ist er zurück in Schaffhausen. «Ich wurde hier sehr herzlich empfangen», sagt er über den Start im VJPS. Luck betreut ein breites Aufgabenspektrum – neben dem Tasch sind die Gassenküche, die Suchtberatung und die Fachstelle für Gesundheitsförderung und Prävention die Standbeine des VJPS. «Der ganze Verein ist sehr gut organisiert», sagt Luck.

Jubiläum der Gassenküche

In der Gassenküche an der Hochstrasse 36 erhalten sozial benachteiligte Menschen eine günstige, ausgewogene Mahlzeit. Für viele Besucher ist die Gassenküche nicht nur ein Ort der Verpflegung, sondern auch ein wichtiger Treffpunkt. In der Gassenküche blieb die Anzahl der Stammgäste und die Laufkundschaft in den letzten Jahren stabil. «An einem normalen Tag werden dort rund 40 feine und vollwertige Mittagessen ausgegeben», sagt Luck. Das Angebot ist nicht gratis, ein Zmittag mit Getränk und Kaffee kostet 5.50 Franken. Im Mai 2017 übergab Karola Lüthi die Leitung der Gassenküche an Judith Pallotta; Lüthi wurde als erste Frau zur Munotwächterin gewählt. Im laufenden Jahr wird das 30-Jahr-Jubiläum der Gassenküche gefeiert – mit einer Aktionswoche.

 

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