Aufgegeben und vergessen – die Geschichte von Berslingen

Ralph Denzel | 
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Knapp 200 Gräber wurden auf dem Friedhof in Berslingen gefunden. Bild: SHN-Archiv, Montage OPP

Im Mittelalter gab es direkt vor der Stadt Schaffhausen einen Ort, den man heute fast vergessen hat: Das Dorf Berslingen. Wieso verschwand dieses irgendwann aus der Geschichte?

Wo heute über die A4 Autos brausen, herrschte früher das Leben. Dort liegt im 12. Jahrhundert ein typisches Dorf des Hochmittelalters. Die Menschen gehen ihrem Tagewerk nach, besuchen die kleine Kirche, die auf einer Anhöhe über dem Ort liegt. Einige Höfe stehen in unmittelbarer Nähe dieses Steingebäudes. Darin kochen Bewohner auf Feuerstellen ihr Essen oder spinnen Garn.

Sogar eine kleine Strasse hat der Ort. Diese führt einmal quer hindurch in Richtung Schaffhausen, welches damals noch weit von der Stadt entfernt ist, die wir heute kennen. Berslingen verfügt über eine Eisenhütte, in der Gegenstände wie Nägel und Messer hergestellt werden und die sowas wie der Mittelpunkt der Gemeinde ist.

Eine Zeichnung von Berslingen. Bild: Hanna Hromadka, in «Berslingen - ein verschwundenes Dorf bei Schaffhausen»

Zu Spitzenzeiten leben in Berslingen zwischen 50 und knapp 100 Menschen in ungefähr 30 Häusern. Die meisten davon finden an ihrem Lebensende in der Erde vor der alten Kirche ihre letzte Ruhestätte.

Viel später werden dort ungefähr 200 Gräber von Archäologen gefunden werden. Erst diese Ausgrabungen im Jahr 1969/1970 bringen Berslingen wieder in das Gedächtnis der breiten Massen – und geben einen faszinierenden Einblick in eine Welt, die heute fremd und rau scheint.

Ein kleiner Ort in der Schweiz

Selbst in seiner Hochzeit ist Berslingen kein Ort, der viel Beachtung erfährt. Das erste Mal wird der Ort im achten Jahrhundert erwähnt – zu diesem Zeitpunkt leben aber wohl bereits seit knapp 200 Jahren Menschen an diesem Ort im Durachtal. Den Namen erhält der Ort wahrscheinlich aufgrund seiner Lage: Am Ausgang des Durchatales gelegen, kann der Name vom keltischen Wort «Birs» kommen. Das bedeutet so viel wie Fluss oder Wasserlauf. Die Endung «ingen» kommt ebenfalls aus dem Altdeutschen und drückt die Zugehörigkeit zu etwas, in diesem Fall dem Wasserlauf, aus.

Wie es zur Besiedelung kommt, ist nicht ganz überliefert. Einige Quellen erwähnen ein Pferdegestüt, welches wohl vor Schaffhausen gelagert ist und um das sich in den kommenden Jahren die Menschen angesiedelt haben. Andere deuten auf eine Verbindung zu Merishausen hin, so dass die ersten Bewohner dieser noch heute existierenden Gemeinde nach Berslingen gezogen sind.

Ausgrabungen in Berslingen. Bild: SHN-Archiv

Die Quellenlage ist jedoch ein schwieriges Thema bei Berslingen. Die Geschichte der Gemeinde kann man hauptsächlich daran festmachen, wie das Dorf von Herrenhand zu Herrenhand gereicht wird. So geht es zuerst in den Besitz des Klosters St. Gallen, geschenkt von einem Graf Luitold. Weitere Details erfährt man über den Ort kaum - Chroniken der damaligen Zeit schenken ihm kaum Beachtung und wenn, dann nur in kurzen Nebensätzen. Über besondere Ereignisse, oder gar das Leben in diesem Ort, erfährt man nichts.

Berslingen bleibt im Hochmittelalter immer nur ein Nebensatz der Geschichte.

Was schade ist, denn das Dorf ist im 12. Jahrhundert durchaus belebt: Archäologen finden Anfang der 1970er-Jahre knapp 30 Häuser, teils aus unterschiedlichen Epochen. Auch die oben erwähnte Eisenhütte ist zu finden. Auffälligstes Bauwerk in Berslingen ist trotzdem mit Sicherheit die Kirche, auch wenn sie nicht sonderlich gross ist: Laut Archäologen sollen die Masse des Bauwerkes ungefähr zehn auf sechs Meter betragen haben. Dafür war sie aus Stein gebaut, was keine Selbstverständlichkeit für die Zeit ist.

Auch interessant: Datieren kann man das Gotteshaus auf um die Zeit um 800 nach Christus. Sie ist wohl auch nicht prunkvoll, sondern eher zweckdienlich für die Bedürfnisse der Einwohner von Berslingen. Quellen geben auch hier kaum Auskunft über das Gotteshaus. Zwar finden sich Hinweise darauf in den Chroniken von Johann Jakob Rüeger. Dieser erwähnt im 17. Jahrhundert die Überreste dieser Kirche. Laut Rüeger ist zu diesem Zeitpunkt aber nur noch das Fundament zu finden.

Berslingen ist damals katholisch – aber trotzdem hat der ursprünglich keltische Glaube wohl immer noch etwas Einfluss auf die Menschen der damaligen Zeit, denn: Auch wenn mit Aufkommen des Katholizismus die Tradition von Grabbeigaben immer mehr in den Hintergrund verschwindet, werden in einigen von insgesamt 200 Gräbern, verteilt über verschiedene Jahrhunderte, noch einige heidnische Grabbeigaben im Grab haben.

Die Toten von Berslingen

Damals ist es üblich, die Menschen auf «geweihtem Boden» in der Nähe einer Kirche beizusetzen. So geschieht es auch in Berslingen. Auf dem Gebiet um die alte Kirche findet man bei der Ausgrabung im Jahr 1970 knapp 200 Gräber. Die Toten von Berslingen lassen die Forscher dabei einen Blick auf das Leben im Mittelalter werfen – und geben auch Auskunft über ihr Leben, welches sie in dem kleinen Ort vor Schaffhausen geführt haben.

Die Menschen in Berslingen haben zum Bespiel fast alle schlechte Zähne: So wird bei Untersuchungen festgestellt, dass fast 38 Prozent der Menschen, die um die Kirche ihre letzte Ruhe gefunden haben, bei ihrem Tod Zahnschmerzen hatten – sie litten unter Karies. Aber das ist nicht die einzige Problematik, die die Menschen dieses Ortes mit ihren Zähnen haben: Über 80 Prozent leiden laut Untersuchungen der Universität Basel an Parodontose.

Die Knochen eines Berslingers, ausgegraben im Jahr 1969. Bild: SHN-Archiv

Sind die schlechten Zähne kein Merkmal, dass die Berslinger besonders von ihren Zeitgenossen dieser Epoche abhebt, so ist es die Schädel- und Kieferform der Menschen dieses Dorfes durchaus, denn: Laut Forschern haben die männlichen Skelette sehr engstehende Augenhöhlen, die weiblichen hingegen sehr lange Gesichter. Gemeinsam haben die Geschlechter, dass die Kieferform besonders ist.

Und auch das ist kurios, betrachtet man Berslingen: Die Menschen scheinen sehr vorsichtig gewesen zu sein. So lassen sich in den Gräbern kaum Knochen finden, die Verletzungen durch Gewalt, Kämpfe oder Arbeitsunfälle aufweisen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Menschen vor Unfällen und Verletzungen gefeit sind. Davon spricht zum Beispiel auch der Schädel eines Mannes, der irgendwann in seinem Leben mal einen heftigen Schlag auf dem Kopf bekommen haben muss. Ob dies von einer Waffe oder bei einem Unfall passiert ist, ist dabei nicht zu ermitteln. Einzig die dicken Vernarbungen auf seinem wieder zusammengewachsenen Schädelknochen machen deutlich, dass er in seinem Leben eine schwere Verletzung hatte.

Aber auch die tragische Seite des Mittelalters spiegelt sich auf dem Friedhof: In unmittelbarer Nähe des Mannes finden sich viele Gräber von Kindern. Oft haben Säuglinge im Mittelalter das Kindsbett nicht überlebt.

In den Gräbern findet man aber auch den Berslinger, der zu seinen Lebzeiten an einem sogenannten «Brodie-Abszess» leidet. Dies ist eine Form von Knochenmarksentzündung, die enorm schmerzhaft sein kann und auch die Beweglichkeit einschränkt.

Ein Skelett sogenannter Brodie-Abszess. Bild: SHN-Archiv

Trotzdem ist auffällig: Manche Gräber sind doppelt belegt und ich manchen finden sich nur Schädel. Auch Kreisarchäologin Kathrin Schäppi kann nicht viel mehr Licht ins Dunkel bringen: «Zu den speziellen Bestattungen in Berslingen können nur Mutmassungen angestellt werden.» Die «spezielleren» Gräber in Berslingen könnten daher eine besondere Bedeutung haben, «so zum Beispiel, dass es sich bei den in spezieller Lage Beigesetzten um «Aussenseiter» oder aussergewöhnliche Personen handelt.»

Drei Schädel, aber nur ein Skelett. Wie kommt das? Bild: SHN-Archiv

Ein Grab in Berslingen fällt dabei besonders auf: So finden sich darin drei Schädel, aber nur ein Skelett. Die Kreisarchäologin hat dafür folgende mögliche Erklärung: «Schädel können mit einer Nachbestattung im selben Grab erklärt werden, wobei der Rest der Knochen entfernt, aber der Schädel als individuellster Körperteil im Grab belassen wird. Mehrfachbestattungen wiederum können durch den zeitnahen Tod mehrere Personen beispielsweise durch eine Krankheit oder ein Unglück erklärt werden.»

Das Ende des Dorfes

Heute gibt es, bis auf Ausstellungen im Allerheiligen, kaum mehr Hinweise auf das Leben in Berslingen. Das Dorf wurde irgendwann im Hochmittelalter zwischen dem 12. Und 15. Jahrhundert vollends aufgegeben, so schätzen es zumindest Historiker.

Was genau dazu führte, dass das Dorf aufgegeben wird, ist nicht klar überliefert. In der Geschichte führen Kriege, Krankheiten oder auch Naturereignisse immer wieder dazu, dass so etwas geschieht. Bei Berslingen ist der Grund für die Wüstung des Ortes wohl profaner: Schaffhausen. Der Stadtkern von Schaffhausen ist nur drei Kilometer von Berslingen entfernt. Wahrscheinlich sind dadurch über die Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mehr Berslinger nach Schaffhausen abgewandert.

Ein genaues Datum, wann der letzte Mensch aus Berslingen abwanderte, ist nicht klar. Historiker schätzen, dass dies ungefähr in der Mitte des 13. Jahrhunderts geschah. Dagegen spricht allerdings, dass im Jahre 1311/12 in Chroniken der Begriff «zu Berslingen» auftaucht. 60 Jahre später wird in Unterlagen des Jahres 1375 von einer Frau aus Berslingen berichtet, die jetzt allerdings in Schaffhausen wohnt, «wegen ihres frechen Mundstücks». Aber sogar noch im 15. Jahrhundert gibt es Berichte, wonach auf dem Gelände vor Berslingen noch vereinzelte Höfe stehen, die auch betrieben werden.

Später, im 16. und 17. Jahrhundert, erinnern nur noch Begriffe wie «Berslingertal» oder «Berslingerbach» an den Ort. Diese tauchen in Verkaufsurkunden aus dieser Zeit auf. Man kann allerdings davon ausgehen, dass zu diesem Zeitpunkt im besten Fall noch Ruinen an den einstigen Ort erinnern.

Durch Pfähle markierte Pfostenstellungen von Häusern, Speichern und Hütten im mittelalterlichen Berslingen. Bild: SHN-Archiv

So gerät das «verlorene Dorf» immer weiter in Vergessenheit – bis Ende der 1960er-Jahre. Kurz vor dem Bau der N4, heute A4, wird in einer grossangelegten «Notgrabung» der gesamte Ort nochmals ausgegraben und kartographiert. «Als Not- oder Rettungsgrabungen werden Grabungen bezeichnet, die durch Bauarbeiten oder anderweitige Bodeneingriffe ausgelöst werden, die eine Zerstörung der archäologischen Überreste zur Folge hätten», erklärt Kreisarchäologin Kathrin Schäppi. Auch die Öffentlichkeit hat nochmal die Gelegenheit, sich Berslingen aus der Nähe anzuschauen.

So bekommt Berslingen letztlich das, was dem kleinen Ort während seiner Blütezeit verwehrt bliebt: Aufmerksamkeit - und das nicht ohne Grund. «Grossflächig archäologisch untersuchte mittelalterliche Siedlungen sind selten», so die Kreisarchäologin Kathrin Schäppi. «Bei noch bestehenden Städten oder Dörfern, deren Ursprünge zwar auch ins Mittelalter zurückgehen, finden sich ebenfalls zahlreiche archäologische Spuren im Boden. Diese sind aber stark überprägt durch die jahrhundertelange Bautätigkeit, so dass oft nur Fragmente aus dem Mittelalter übrig sind.» Dagegen war Berslingen, auch, weil es verlassen wurde, ein Glücksfall für die Archäologie: «Die Spuren der Wüstung von Berslingen hingegen haben sich als Zeitkapsel in der Erde erhalten. Die Grabung hat die Siedlung mit ihren Gebäuden, ihrer Struktur und den materiellen Hinterlassenschaften wieder zum Leben erweckt.»

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