«Wir bitten Sie nun, in unser zweites Flugzeug umzusteigen»
Mitten im Flug aus einem Flugzeug aussteigen - und das ohne Fallschirm? Die Nutzung des kleinsten Jagdfliegers der Welt sollte, wie die Schaffhauser Nachrichten im Jahr 1950 schrieben, die Passagierbeförderung revolutionieren.
Der Blick aus dem Fenster offenbart die Küste Spaniens in der Ferne. Der Langstreckenflug von New York nach Paris dauert nun schon mehrere Stunden. Sitzen ist nun schon in jeder erdenklichen Position ungemütlich geworden und auch die Flugzeugmahlzeit liegt immer noch ein wenig schwer im Magen. Alle Passagiere warten schon sehnsüchtig darauf, das Flugzeug zu verlassen. Alle? Nicht ganz. Für zwei Passagiere aus Barcelona ist die Reise schon frühzeitig zu Ende. Und zwar direkt über der iberischen Halbinsel. Denn die Luftfahrt kennt ein neues Transportmittel: Das «Parasiten-Flugzeug». Das winzig kleine Jagdflugzeug transportiert die beiden Barcelonesen direkt aus dem Bauch des Flugzeug heraus zum internationalen Flughafen der Katalanenstadt. Eine Revolution in der Aviatik, ohne Zweifel.
Die Geschichte ist natürlich von fiktionalem Charakter. Ganz und gar real ist aber das Flugzeug dahinter. Die Schaffhauser Nachrichten berichteten in ihrer Ausgabe vom 27. März 1950 vom sogenannten «Parasiten-Flugzeug». Es handelt sich dabei um ein winzig kleines Flugzeug, dass von seinem «Mutterschiff» in der Luft abgeworfen werden kann. Die Idee dazu entstammt aus dem zweiten Weltkrieg, wie die SN schrieben:
«Schwere Bomber legten während des zweiten Weltkriegs immer grössere Distanzen zurück, um ihre todbringende Last über den feindlichen Industrieanlagen oder Truppenansammlungen abzuwerfen. Vom Gegner wurden die grössten Anstrengungen unternommen, um diese verderbenbringenden Vögel kurz vor dem Ziel durch Jagdflieger abzufangen. Allzuoft gelang dies; denn die Bomber mussten ohne Jägerschutz fliegen, weil die Jagdmaschinen, die es ohne weiteres mit des Gegners Formationen aufgenommen hätten, keinen genügenden Aktionsradius besassen. Aus diesem Grunde gingen die besten Konstrukteure in Amerika daran, ein Klein-Flugzeug zu bauen, das von den grossen Bombern mitgenommen werden konnte und das Mutterflugzeug erst über dem Zielgelände zu verlassen brauchte»
Die abenteuerliche Idee wurde auch tatsächlich umgesetzt:
Nach beinahe endlosen Versuchen ist es nun der McDonell Aircraft Corporation in St. Louis, Missouri, USA, gelungen, ein Flugzeug zu bauen, das den Anforderungen an ein Parasitenflugzeug entspricht. Die Abmessungen sind winzig: Die XF-85 ist nur 4,55 Meter lang und ihr Tragdeck nur 6,40 Meter breit, dabei erst noch zusammenklappbar. Die ganze Maschine, die am ehesten einer Hummel gleicht und auch so wendig wie diese sein soll, hat bequem im vergrösserten Bomberschacht einer Consoledated Vultee B-36 Platz.
Beinahe ebenso revolutionär wie das Flugzeug, das übrigens auch heute noch als kleinster düsenbetriebender Jagdflieger der Welt gilt, war die Technik, die zum Abwurf und auch zum Einladen der XF-85 benutzt wurde:
Das Parasitenflugzeug benötigt keinerlei Fahrgestell. Es wird an einem Trapez aus dem Mutterflugzeug herausgeschwenkt. Die Flügel klappen im Fahrwind (480 Stundenkilometer) automatisch auf, und der Parasitenflugzeug-Pilot braucht nur das Zeichen zum Ausklinken zu geben, um selbständig weiterfliegen zu können. Nach dem Eigenflug kehrt der Parasit zu seinem «Wirt» zurück, fliegt unter das Mutterflugzeug, welches die Trapezkonstruktion herunterlässt. Ist ein Haken, der vom Parasitenflugzeug aus nach oben ragt, eingeklinkt, so wird das kleine Jagdflugzeug eingezogen und kann nach der Brennstoffaufnahme wieder verwendet werden.
Doch was haben die zwei Barcelonesen vom Anfang nun mit dem kleinsten Jagdflieger der Welt zu tun? Hier kommen wiederum die Schaffhauser Nachrichten ins Spiel. Sie betrachteten nämlich die Vorteile der XF-85 nicht nur für die Militär-, sondern auch für die Zivilluftfahrt von grosser Bedeutung.
«Es ist bekannt, dass die grössten Flugzeuge, die über den Atlantik fliegen, nur auf einer sehr beschränkten Anzahl von Flugplätzen landen können. Gar oft dauert heute schon die Reise von diesen Riesenflugplätzen aus zu dem eigentlichen Endziel länger als der Flug von Kontinent zu Kontinent. Aehnlich verhält es sich mit den Langstreckenflügen über den Kontinenten. Wir können uns nun sehr gut vorstellen, dass sich das Parasitenflugzeug allmählich zum Zubringerflugzeug zu den Luftriesen entwickelt. Ein transkontinentales Flugzeug, das von New York nach Paris fliegt, hat zum Beispiel zwei Passagiere nach Barcelona an Bord. Es würde viel mehr kosten, wenn das Riesenflugzeug in Spanien landen würde, um die beiden Fahrgäste abzusetzen, als wenn das Flugzeug sein Parasitenflugzeug diesmal mit Fahrgestell aussendet, um diese an ihren Bestimmungsort zu bringen.». Und sie gehen sogar noch weiter: «Noch einfacher wäre es allerdings, wenn auf allen Kleinflugplätzen Parasitenflugzeuge bereit stünden, die drahtlos von den Großstreckenflugzeugen angefordert werden könnten. Dies würde beim Mutterflugzeug nur eine entsprechende Einrichtung benötigen, nicht aber das Mitführen eines Kleinflugzeuges als unnötigen Ballast. Wir sehen, die Perspektiven, welche diese neue Flugzeugkonstruktion eröffnet, sind wirklich sehr gross.»
Eigentlich schade, dass sich die Schaffhauser Nachrichten diesbezüglich geirrt haben. Das Aussteigen aus einem Flugzeug mit Passkontrollen, Gepäckentgegennahme und Zolldurchgang wäre somit nicht nur obsolet, sondern selbst auch zu einer Reise in die Vergangenheit geworden.