Er fotografierte als Erster die «Schwulenseuche», nun ist der visionäre Provokateur Oliviero Toscani gestorben

Daniele Muscionico (MD) | 
Lesenswert
Noch keine Kommentare
Oliviero Toscani mit einem seiner Werbefotos für «Benetton». Anlässlich des 80. Geburtstages richtete ihm seine Heimatstadt Mailand eine grosse Werkschau aus. Toscani starb am Montag in seinem Zuhause in der Toscana. Bild: Keystone

Magersüchtige Models, Aidskranke, die Werbung von Oliviero Toscani für die Modemarke «Benetton» verletzte Grenzen und sorgte für Skandale. Am Montag ist der Fotograf an den Folgen einer schweren Krankheit im Alter von 82 Jahren gestorben.

Vor genau einer Woche schloss die weltweit letzte grosse Ausstellung von Oliviero Toscani, sie befand sich in Zürich, im Museum für Gestaltung. Das war kein Zufall. In der Schweiz begann die Karriere eines Agent Provocateur, der die Werbung und die Wertmassstäbe seiner Zeit dehnte wie keiner. Oliviero Toscani, 1942 in Mailand geboren, Sohn einer einflussreichen Fotografendynastie, hatte in den 60er-Jahren an der damaligen Kunstgewerbeschule Zürich Fotografie studiert.

Das Bild des sterbende David Kirby, den Toscani für die "Benetton"-Werbung verwendete, sorgte für heftige Proteste und in Italien und anderen Ländern für ein Verbot.

Kindern war das Betreten seiner grossen Retrospektive nur in Begleitung Erwachsener erlaubt. Denn da waren sie versammelt, die Bilder seiner Zumutungen aus einer Zeit, als sie noch erlaubt waren und öffentlich gezeigt werden durften: das blutgetränkte T-Shirt eines gefallenen bosnischen Soldaten; das ikonische Porträt des aidskranken David Kirby im Kreis seiner Familie; das magersüchtige Model. Tabubrüche. Toscani machte damit Werbung im Auftrag der Modemarke «Benetton».

Toscanis Werbung hatte politischen Einfluss

Längst bevor in den 80er-Jahren das Wort Diversity erfunden worden war, hatte Toscani verstanden: Werbung ist immer nur so gut wie die Aufmerksamkeit, die sie erregt. Also fotografierte er an gegen Dumpfheit und Ignoranz, gegen die katholische Kirche und andere moralische Autoritäten. Er dehnt die Grenzen dessen, was möglich war, mit Erfolg: Das Bild des todkranken homosexuellen Kirby stiess 1992 unter Reagan die erste politische Debatte über Aids an; das magersüchtige Profimodel führte 2007 auf den Laufstegen in Mailand zu ersten Debatten über ein Mindestgewicht bei Models.

Werbekampagne für «United Colors of Benetton», 1992. Bild: Toscani

Die Zürcher Ausstellung «Oliviero Toscani – Fotografie und Provokation», die er selbst mitkuratierte, war ein enormer Publikumserfolg. Sie wurde mehrfach verlängert, und auch Toscani war anwesend, sofern es seine Gesundheit zuliess. Seine Verbundenheit zu seiner ehemaligen Schule war gross, die Dankbarkeit auch, Zürich war sein erster Schritt in die Welt.

Von der Schweiz aus in die Welt

Noch als Student beteiligte er sich an einem Wettbewerb für die amerikanische Fluggesellschaft PanAm. Er gewann, und es öffneten sich ihm die Türen von New York. Eine Ausgabe für «Uomo Vogue» ausschliesslich mit schwarzen Models war sein erster Coup aus dem Moloch, inspiriert von kreativen Randexistenzen. Es war die Zeit von Andy Warhol, Toscani arbeite in seinen Kreisen und Klubs, in Schwulen- und Lesbenzirkeln, stilprägend.

Werbekampagne für «United Colors of Benetton», 1991. Bild: Toscani

Die Einflüsse nutzte er später für seinen internationalen Durchbruch an der Seite des Benetton-Gründers Luciano Benetton. Nicht nur der Markenauftritt, die Verbindung von Gender, Rasse und Kulturen im Namen der Modefirma, selbst der Claim «United Color of Benetton», so die Legende, soll auf eine Idee des Fotografen zurückgehen.

Heute sind Toscanis Werbekampagnen politisch nicht mehr realisierbar. Er selbst hat die Entwicklung stets als Backlash verstanden und sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere von der Werbung abgewandt. «Werbung ist ein lächelndes Aas» titelte er seine Autobiografie, ein starkes Statement. Dem Provokateur lag das vermeintlich Inkorrekte näher als das Mehrheitsfähige. Oliviero Toscani ist am Montag im Alter von 82 Jahren an seiner Krankheit gestorben.

Ist dieser Artikel lesenswert?

Ja
Nein

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren