Weihnachten als Oase

Alfred Wüger Alfred Wüger | 
Noch keine Kommentare
Alfred Wüger.

Am Abend des 19. Dezember, ich war gerade am Lesen, stürzte meine Frau ins Zimmer und rief: «Ein Anschlag in Berlin, komm schnell!» Und am Fernsehen sahen wir’s dann. Mussten es schauen, denn andere, seichtere Sendungen waren um der Aktualität willen aus dem Programm gekippt worden.

Als die Flugzeuge in die Twin Towers krachten, am 11. September 2001, brachte ich die Nachricht mit in eine Gesellschaft, die gerade am Feiern war. «Und das ausgerechnet an meinem Geburtstag!» So lautete der lapidare Kommentar dessen, der sein ­Wiegenfest beging. Es gibt offenbar ­Momente, Tage, Zeiten, wo uns die Welt gestohlen bleiben kann. Wo wir für uns sein wollen und empfindlich auf Gatecrasher reagieren, wo wir uns auf uns selbst zurückziehen wollen.

Als die grosse Welt noch weiter weg von unserer kleinen Welt war

Verwerflich ist das nicht. Es ist nicht nur wichtig, sondern geradezu identitätsstiftend, dass wir uns abgrenzen können, und es ist daher kein Zufall, dass das Angebot an psychologisch oder esoterisch angehauchten Kursen gross ist, wo man genau dies lernen kann. Ein Schlagwort in diesem ­Zusammenhang lautet: Reizüberflutung. Und dass der von vielen sogenannte Weihnachtsrummel arm an Reizen sei, können wohl auch die nicht bestreiten, die dieses ganze Remmidemmi inszenieren. Lichtgirlanden überall, die künstlichen und erst noch weiss besprühten Christbäume schon weit vor Weihnachten. «Süsser die Glocken nie klingen …» Und dennoch: Irgendetwas zieht uns eben doch zu den Buden mit dem Glühwein, zum Guetsliduft, zum Karussell auf dem Fronwagplatz, wo auch der grosse Christbaum steht. Wie jedes Jahr. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass die Tanne in den letzten Jahrzehnten je einmal nicht aufgestellt worden wäre, aber ich erinnere mich gut an die Empörung, die viele erfasst hatte, als einmal die Krippen­figuren einem Vandalenakt zum Opfer fielen. Und das war in einer Zeit, als die grosse Welt noch nicht derart stark gegen unsere kleine Welt anbrandete.

Lieber «Bauer sucht Frau» als eine Dokumentation über Aleppo

2003 erschien ein schmales Büchlein des – nicht zuletzt aus den Medien – bekannten Philosophen Rüdiger Safranski, das den Titel trägt: «Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?» Seit das Buch herauskam, haben die Globalisierungstendenzen nicht abgenommen, im Gegenteil. Den Mord am russischen Botschafter in Ankara kann sich Gross und Klein auf YouTube ansehen. Wie sollte da die Versuchung nicht gross sein, wegzuschauen, sich all dem, was da draussen in der Welt geschieht, zu verweigern? Lieber «Bauer sucht Frau» und «Wer wird Millionär?» statt einer Dokumentation über die Evakuierung von Ostaleppo. Und lieber als die ewigen schlechten Nachrichten und blutigen Terroranschläge und die Bilder von Bootsflüchtlingen ist uns dann doch noch der Weihnachtsrummel mit seinen Märkten. Dort duftet es gut, dort ist man unter sich, dort ist man Mensch. ­Gemütlich blinken die Lichter an den Buden, es ist dunkel, es ist so, wie es vielleicht nicht einmal in der Kindheit war, aber so, wie wir uns an die Kindheit erinnern wollen. Und genau ein solcher Weihnachtsmarkt, ein solcher Rückzugsort, eine solche Wohlfühloase wurde nun in Berlin getroffen.

Zum ersten Mal seit Jahren wieder an den Mitternachtsgottesdienst

«Sollten wir zum Ziel werden, dann wird das schlimm», sagt der Schweizer Terrorexperte Albert A. Stahel. «Wir haben die genau gleichen Probleme wie Deutschland. Wir haben Menschen, die bei uns sind, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen und wie sie ticken. Das birgt tatsächlich eine grosse Gefahr.»

Und plötzlich sehnen sich alle nach Geborgenheit. Auch junge Menschen, die noch vor Kurzem in die Welt hinauswollten, bleiben ein, zwei Stunden länger als sonst am Heiligen Abend zu Hause, wo der Tannenbaum leuchtet, die Weihnachts-CD läuft, Onkel Hans nach ein, zwei Gläschen zu viel plötzlich unerwartet lustig wird. Und zu guter Letzt kommt sogar die Idee auf, in den Mitternachtsgottesdienst zu gehen. Seit Jahren zum ersten Mal wieder.

Weihnachten als Idylle ist wieder im Schwange. Obwohl Weihnachten als Idylle eine Täuschung ist, wie ein Blick in die Bibel sofort zeigen würde. Aber: «Einmal im Jahr ist es erlaubt, seine kitschige Seite auszuleben.» Das hört man allenthalben. Wie viel Kitsch braucht er denn, der globalisierte Mensch?

Wie sollte die Ver­suchung nicht gross sein, sich all dem, was da draussen in der Welt geschieht, zu verweigern?

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren