Immer weniger Schüler schreiben souverän von Hand: Ein Ex-PH-Rektor erklärt, weshalb die Handschrift nicht sterben darf

«Handy statt Notizheft» heisst es heute. Die Handschrift hat es schwer. Das Digitale macht sie überflüssig. Doch das Denken geht über die Hand. Das analoge Schreiben bleibt darum wichtig.
von Carl Bosshard*
Wer von uns freut sich nicht an einem handgeschriebenen Brief? Doch sie werden spürbar rarer. In der Regel stecken ältere Menschen dahinter. Sie haben das Schreiben von Hand noch intensiv geübt – als Kulturtechnik. Die «Kunst des schönen Schreibens» stand im Stundenplan. Diese Zeiten sind vorbei.
«Touchscreens und Monitore schieben sich zwischen die Welt und uns.»
Wir leben in einer Epoche der Handvergessenheit. Die Hand büsst an Ansehen ein. Computermaus und Bildschirme bestimmen, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Eine Art Secondhandleben. Von der Hand bleibt nur noch der Finger, das Digitale. Das zeigt sich in der Herkunft des Wortes aus dem lateinischen «digitus» für Finger. Wir haben vielfach eine vermittelte Weltwahrnehmung. Touchscreens und Monitore schieben sich zwischen die Welt und uns. Wir sind fast immer online und fühlen uns laufend aufgefordert, irgendwie auf die Welt zu reagieren, auch wenn das, was wir als Welt bezeichnen, mehr und mehr aus Daten und elektronischen Signalen besteht. Eine virtuelle Welt. Viele von uns sind Tipperinnen und Wischer geworden. Die Hand verliert das Bedeutsame früherer Tage.

Verschwindet damit auch eine Kulturtechnik? Fakt ist: Immer mehr Menschen verzichten auf Papier und Stift. Und immer weniger Schüler schreiben souverän von Hand. Immer weniger Schulen verlangen ihnen das ab, obwohl es der Lehrplan 21 fordert. Laptop und Tablet bringen die Handschrift an den Rand ihrer Existenz. Smartphones und Sprachnachrichten verdrängen sie.
Greifen und begreifen
Vergessen geht dabei der Zusammenhang zwischen «mens» (Verstand) und «manus» (Hand). Davon haben Dichter und Philosophen immer eine Ahnung gehabt – und engagierte Pädagogen auch. Die moderne Entwicklungspsychologie bestätigt diesen engen Zusammenhang zwischen Denken und Tun, zwischen Verstand und Hand. Vom Greifen zum Begreifen, heisst es: Die Verstandeseinsicht geht eben auch durch die Hände. Der griechische Philosoph Aristoteles hat darum von den Händen als dem äusseren Verstand gesprochen. Verstehen könnten wir nur, was wir zuerst in den Sinnen hätten, also in den Händen.
Kinder, die im Sandkasten Burgen bauen, die Bäche stauen und mit Bauklötzen Türme konstruieren, brauchen ihre Hände. Sie greifen zu und begreifen so zusehends die Welt. Für sie ist die Welt mit Händen zu greifen, haptisch oder taktil. «Begriff» und «begreifen» sind Worte, die unüberhörbar aus dieser Sphäre stammen. Vielleicht entwickeln solche Kinder ein anderes Weltverhältnis als Digital Natives, die früh mit TikTok und Display umzugehen lernen.
Denken sei ein Abkömmling des Tuns, sagen Lernforschende. Das gilt auch fürs Schreiben. Kinder halten Schriftzeichen wie d und p oder b und q leichter auseinander, wenn sie diese Symbole mit der Hand schreiben, statt sie zu tippen. Die Strichführung von Hand ist anspruchsvoller als das Eintippen per Tastatur. Die Handschrift erfordert feinmotorische Fertigkeiten. Der Stift sei darum wirksamer als die Tastatur, sagt die renommierte Studie «The Pen is mightier than the Keyboard».

Papier oder Tablet? Schreiben mit der Hand oder tippen? Es gilt das, was für die Pädagogik immer gilt: ein Sowohl-als-auch. Pädagogik ist keine Entweder-oder-Praxis. Nur ist das eine, das Haptische des Schreibens, heute schwieriger geworden. Doch von Hand schreiben ist eben kein Relikt der analogen Ära. Selbst im digitalen Zeitalter hat es seinen Wert. Wir Menschen begreifen vieles über die Hand. Darum braucht es in der Schule weiterhin den Mut zur Handschrift.
*Carl Bosshard ist ehemaliger Direktor der Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug.