Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Wo die psychische Krise herrührt

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Zwei Personen stehen vor einem Plakat des Berner Bündnisses gegen Depression. Bild: Key

Kinder und Jugendliche sind psychisch zunehmend belastet – das spürt auch Pro Juventute. Politik und Gesellschaft sind gefordert, junge Menschen zu unterstützen und zu stärken.

von Nicole Platel*

«147,wie kann ich dir helfen?» Mit diesen Worten nehmen die Beratenden von Pro Juvenute seit 25 Jahren das Telefon ab, wenn sich Kinder und Jugendliche melden. Durch unser anonymes und vertrauliches Beratungsangebot erfahren wir aus nächster Nähe, was sie beschäftigt. Quasi wie ein Thermometer, welches das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen misst. Dieses Thermometer gibt gerade grossen Anlass zur Sorge – denn es zeigt akutes Fieber an.

Der erste Liebeskummer, Streit in der Familie oder die Frage nach dem eigenen Platz in der Welt: Viele der Themen, mit denen sich junge Menschen in der prägenden Zeit ihrer Kindheit und Jugend auseinandersetzen, sind gleich geblieben. Doch die Sorgen und Probleme sind schwerer geworden. Wir erleben aktuell eine Multikrise, die von sich überlappenden Krisen und Unsicherheiten geprägt ist. Diese Multikrise trifft junge Menschen in einer vulnerablen, von Veränderungen geprägten Zeit und fordert sie in ihrem Heranswachsen heraus. Die Folge: Psychische Belastungen nehmen zu und sind heute die häufigste gesundheitliche Herausforderung in ihrer Generation.

«Jeden zweiten Tag muss Pro Juventute eine Blaulichtorganisation aufbieten, weil sich ein junger Mensch etwas antun will.»

Der Beratungsaufwand beim 147 hat im Vergleich zu 2019 um 70 Prozent zugenommen. Besonders gestiegen sind Beratungen zu persönlichen Krisen wie Ängsten, Depressionen oder selbstverletzendem Verhalten. Jeden Tag melden sich rund neun Kinder und Jugendliche mit Suizidgedanken beim 147. 2019 waren es noch drei bis vier Beratungen täglich. Jeden zweiten Tag muss Pro Juventute eine Blaulichtorganisation aufbieten, weil sich ein junger Mensch etwas antun will. Kurz: Das Thermometer glüht lichterloh.

Politik und Gesellschaft könnte Massnahmen ergreifen

Normalerweise bleibt man bei Fieber einige Tage mit Tee und Wickeln im Bett. Bei psychischen Belastungen ist die Sache komplexer. Aber es gäbe sie, die fiebersenkenden Massnahmen, welche die Politik und wir als Gesellschaft ergreifen können, um jungen Menschen zur Seite zu stehen.

Psychisch belastete Kinder und Jugendlichen müssen die professionelle Hilfe erhalten, die sich benötigen – und zwar schnell. Doch die Versorgungskette ist seit Jahren überlastet. Betroffene warten monatelang auf eine Behandlungsmöglichkeit, was mit grossem Leidensdruck für sie und ihr Umfeld verbunden ist. Ausbau und Weiterentwicklung der psychotherapeutischen und psychiatrischen Angebote sind dringend notwendig.

Gleichzeitig müssen niederschwellige Erstanlaufstellen wie das 147 gestärkt werden. Im Parlament ist derzeit eine Motion hängig, welche eine dauerhafte Finanzierung von Organisationen gesamtschweizerischer Bedeutung in den Bereichen psychische Gesundheit und Suizid- und Gewaltprävention fordert. Der Nationalrat hat dem Vorstoss im März 2023 zugestimmt, nun ist der Ständerat am Zug. Der Bundesrat lässt mit seinen Berichten zur psychischen Gesundheit jedoch leider auf sich warten.

Wir müssen als Gesellschaft alles daran setzen, die Resilienz und Kompetenzen hinsichtlich der psychischen Gesundheit junger Menschen zu stärken. Das Erlernen eines gesunden Umgangs mit digitalen Medien ist im 21. Jahrhundert zu einer Schlüsselkompetenz geworden. Gerade weil Kinder und Jugendliche heute mit immer mehr Anforderungen und Erwartungen konfrontiert sind, müssen wir ihnen für ihre gesunde psychische Entwicklung die Zeit und den Raum geben, um sich frei von Stress und Druck entfalten zu können.

Nehmen wir das glühende Thermometer ernst – und tragen wir im Grossen und Kleinen dazu bei, das Fieber zu senken.

* Nicole Platel ist Direktorin von Pro Juventute

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