Der schwierige Kampf gegen die «Bschiisser» in der Firma

Iris Fontana | 
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Ein Arztzeugnis darf auch angezweifelt werden. Bild: pexels.com

Sie weisen grosses kreatives Potenzial auf, die «Bschiisser» unter den Arbeitnehmern – sie gaukeln eine Erkrankung vor, wo keine ist, um auf der faulen Haut zu liegen. Die Ausreden reichen dabei von der Vortäuschung einer gesundheitlichen Komasituation bis zum Kauf eines Arztzeugnisses in den Ferien im Ausland, wie der Zahltag an einem Anlass der IVS erfahren konnte. Eine kurze Abhandlung zu rechtlichen Fragen in Bezug auf den Beweiswert von Arztzeugnissen.

Dass der Anlass, welcher von der Personal- und Bildungskommission der Industrie- und Wirtschaftsvereinigung Schaffhausen (IVS) organisiert wurde, ausgebucht war, lässt schon darauf schliessen, dass das Thema brennt und gewisse Unsicherheiten bestehen. Diesem Missstand Abhilfe schaffen, sollte Dr. Markus Hugentobler, Arbeitsrechtsexperte beim Centre Patronal Bern und nebenamtlicher Richter beim Schaffhauser Obergericht. Er gab denn auch kräftig Gas und referierte ohne Punkt und Komma 90 Minuten zum Thema «Von der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit zur Invalidisierung sowie Beweiswert Arztzeugnis». Ein äusserst umfassendes Thema, von dem wir einen Aspekt, nämlich den Beweiswert des Arztzeugnisses, für Sie herauspickt haben.

90 Minuten ohne Punkt und Komma, Dr. Markus Hugentobler ist in seinem Element. Bild: ZVG

Gehen wir, wie Referent Dr. Hugentobler, die ganze Thematik praktisch an: Peter Bill ist Mitarbeiter einer Grosshandelsfirma. Am 28. Februar kündigt ihm sein Arbeitgeber fristgerecht auf den 30. April. Am 1. März erkrankt Peter Bill für einen Tag und reicht ein Arztzeugnis ein. Mit dieser eintägigen Krankschreibung verschiebt sich sein letzter Arbeitstag einen Monat nach hinten. Müssen wir als Arbeitgeber dem Arztzeugnis Glauben schenken?

Beweislast Arbeitsunfähigkeit

Als Grundlage der ganzen Thematik gilt, dass die Beweislast von Krankheit oder Unfall beim Mitarbeiter liegt. Will Peter Bill seinen Lohn und seinen Kündigungsschutz behalten, liegt es also an ihm zu beweisen, dass er diese zugute hat. Drei Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein: Erstens muss er die Krankheit oder den Unfall beweisen können, zweitens muss eine Arbeitsunfähigkeit bestehen und drittens muss ein Kausalzusammenhang gegeben sein. Peter Bill muss also belegen können, dass die Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat.

Dr. Markus Hugentobler und Centre Patronal

Der Referent Dr. iur. Markus Hugentobler ist seit 2010 als Experte für Arbeitsrecht und internationales HR-Management beim Centre Patronal tätig. Daneben bekleidet er Lehraufträge an der FHNW und ZHAW und amtet als nebenamtlicher Richter am Schaffhauser Obergericht. Er weist Publikationen im Arbeits-, Sozialversicherungs-, Ausländer-, Datenschutz-, Straf- und Vereinsrecht vor.
Das Centre Patronal ist als spezialisierter Dienstleister in den Bereichen Rechtsberatung, Verbandsmanagement, Politikberatung und Weiterbildung tätig und vertritt als gesamtschweizerische Organisation die politischen Interessen der Privatwirtschaft. Das Unternehmen beschäftigt 370 Mitarbeiter an den Standorten Paudex, Bern und Zürich. Neben jährlich über 10'000 juristischen Beratungen werden Kurse, Konferenzen und Webinare zu arbeits-, ausländer-, sozialversicherungs- und datenschutzrechtlichen Themen angeboten.

Zwei Kriterien als Beweis

Nun hat Peter Bill ja ein Arbeitszeugnis eingereicht. Reicht dies als Beweis aus? Der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, führt Hugentobler aus, gilt nur als erbracht, wenn sie aufgrund der objektiven Gegebenheiten als sicher anzunehmen ist und keine erheblichen Zweifel daran bestehen. Eine «objektive Gegebenheit» wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn ein vertrauenswürdiger Mitarbeiter mit triefender Nase, niesend und verquollenen Augen zur Arbeit erscheint. Dies war bei Peter Bill nicht der Fall. Vielmehr besteht ein erheblicher Zweifel, dass das Arztzeugnis den wahren Tatbestand wiedergibt. Es stellt sich also die Frage, wann einem Arztzeugnis geglaubt werden muss, beziehungsweise wann ein Arztzeugnis angezweifelt werden darf. Die rechtliche Praxis nennt hierfür neun Fälle, in denen der Beweiswert eines Arztzeugnisses angezweifelt werden darf:

Beweiswert Arztzeugnis – 9 Indizien

Indizien lassen am Beweiswert des Arztzeugnisses zweifeln, wenn

1. ein Arztzeugnis aus bestimmtem Anlass oder für bestimmte Zeiträume, insbesondere nach innerbetrieblichen Differenzen, vor einer unmittelbar drohenden oder für den Zeitraum nach erfolgter Kündigung beigebracht wird;

2. nacheinander Arztzeugnisse von unterschiedlichen Ärzten eingereicht werden («doc shopping»);

3. ein Arztzeugnis in augenfälligem Widerspruch zu anderen Arztzeugnissen steht;

4. das Arztzeugnis eine übermässige Rückdatierung aufweist, d.h. der Beginn der Arbeitsunfähigkeit ohne plausible Begründung auf einen Zeitpunkt von mehr als 3-5 Tagen vor der ersten ärztlichen Konsultation festgelegt wird und damit bloss medizinisch nicht überprüfbare Vermutungen des Arztes enthält;

5. das Arztzeugnis ohne vorgängige Untersuchung ausgestellt wurde und es offensichtlich bloss auf der Wiedergabe oder der Beurteilung der Patientenangaben beruht;

6. im Arztzeugnis in Unkenntnis der körperlichen und geistigen Anforderungen der Arbeitstätigkeit eine Arbeitsunfähigkeit attestiert wurde;

7. ein Arztzeugnis entgegen der arbeitsvertraglichen Verpflichtung mit erheblicher Verspätung bzw. für einen weit zurückliegenden Zeitraum beigebracht wird, so dass eine Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit nicht oder kaum mehr möglich ist;

8. die erhebliche Rückdatierung dazu führt, dass eine Arbeitsunfähigkeit schon vor oder im Zeitpunkt der Kündigung oder während der Kündigungsfrist bestanden haben soll;

9. bei einem Arztzeugnis des Hausarztes Grund zur Annahme besteht, dass sich dieser aufgrund seiner auftragsrechtlichen Vertrauensstellung gegenüber seinem Patienten von advokatorischen Überlegungen hat leiten lassen, die nicht mehr medizinisch begründet sind (Gefälligkeitszeugnis).

Ärztliche Schweigepflicht

Wir beschliessen als Arbeitgeber nun, Bills Arzt anzurufen. Dieser verweigert jedoch die Aussage und beruft sich auf seine ärztliche Schweigepflicht. Was können wir tun? Führt kein Weg daran vorbei, dem Arzt eine arbeitnehmerseitige Entbindung vom Arztgeheimnis einzureichen? Laut Hugentobler ist dies nicht zwingend notwendig. Die ärztliche Diagnose ist zwar sakrosankt und gehört nicht auf ein Arztzeugnis. Alle anderen Angaben auf dem Arztzeugnis dürfen jedoch abgefragt werden. Zum Beispiel, seit wann der Arbeitnehmer beim Arzt in Behandlung ist oder ob eine Behandlung tatsächlich stattgefunden hat. So ist in der Praxis beispielsweise ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis des telemedizinischen Arztzentrums Medgate, das nur aufgrund einer telefonischen Diagnose – also ohne Sichtung des Patienten – stattgefunden hat, im Streitfall nicht stichhaltig. Der Arzt ist verpflichtet, die Fragen zu beantworten und die Antworten erlauben in vielen Fällen, Rückschlüsse auf das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit zu ziehen.

Nachdem wir Peter Bill mit unseren Zweifeln konfrontiert haben, reagiert dieser empört und schickt am nächsten Tag eine Krankschreibung für weitere drei Wochen. Was können wir tun?

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Beizug eines Vertrauensarztes

Herrschen begründete Zweifel an der Richtigkeit eines Arztzeugnisses, besteht grundsätzlich das Recht, einen Vertrauensarzt beizuziehen. Dies darf einfach nicht schikanös sein. Zudem empfiehlt Hugentobler, diesen Punkt am besten auch gleich im Personalreglement festzuhalten, um Diskussionen über dessen Zulässigkeit zu vermeiden. Wir schlagen Peter Bill also drei Vertrauensärzte im Fachgebiet seiner Erkrankung vor – drei, damit Peter Bill nicht einfach unseren einen vorgeschlagenen Arzt ablehnen kann.

Verweigerung führt zu Aufgabe des Lohnanspruchs und des Kündigungsschutzes

Verweigert Peter Bill den Besuch beim Vertrauensarzt, ist er als Arbeitsnehmer beweislos und da die Beweispflicht bei ihm liegt, besteht keine Arbeitsunfähigkeit, also kein Lohnanspruch und auch kein Kündigungsschutz mehr. Hugentobler rät, dies dem Arbeitnehmer klar zu vermitteln. Nimmt Peter Bill den Termin beim Vertrauensarzt wahr und dieser kommt zum Schluss, dass er nicht arbeitsunfähig ist, ist Peter Bill ebenfalls beweislos.

HR-Erfahrungsgruppe IVS-Personal- & Bildungskommission

IVS Erfa

Der Anlass wurde durch die HR-Erfahrungsgruppe der Personal- und Bildungskommission der Industrie- und Wirtschaftsvereinigung Schaffhausen (IVS) organisiert, bei der Markus Hugentobler seit mehreren Jahren als Referent tätig ist. Mit dem jährlichen Anlass zum Thema Arbeitsrecht will die IVS ihre Mitglieder unterstützen, fachlich auf dem neuesten Stand der Rechtspraxis zu bleiben.

Bild: ZVG

Gefälligkeitszeugnis

Was ist jedoch, wenn wir den Verdacht haben, dass Indiz Nummer neun im Fall von Peter Bill zutrifft, dass sein Arzt ihm also ein Gefälligkeitszeugnis ausgestellt hat? Könnten wir erklären, dass wir Arztzeugnisse von einem bestimmten Arzt nicht mehr zulassen? Nein. Einzige Einschränkung in diesem Bereich gilt für Arztzeugnisse aus dem Ausland. Hier darf (insbesondere nach Ferien) reglementarisch verlangt werden, dass es sich um ein Spitalzeugnis handeln muss oder ein Schweizer Arzt ein ausländisches Hausarztzeugnis inhaltlich bestätigt. Dies zeigte laut Hugenzobler schon sehr heilsame Wirkungen im Kampf gegen zu Discountpreisen ausgestellte Arztzeugnisse als Geschäftsmodell ausländischer «Geschäftsleute».

Gefälligkeitszeugnisse von Schweizer Ärzten können zudem beim Hausärzteverband Berufsverband der Schweizer Ärzte (FMH) angezeigt werden.

Ein wunderbares Beispiel für Indiz Nummer 9 ist auch folgendes Beispiel, wobei der Arzt bei genauer Betrachtung richtig gehandelt hat:

Arztzeugnis

Bild: ZVG

Verlassen wir den Fall Peter Bill und schauen noch ein paar weitere Punkte im Bereich Krankschreibung an. Zu Beginn haben wir gesehen, dass für diese auch die Arbeitsunfähigkeit nötig ist.

Behandlungsbedürftigkeit ist nicht Arbeitsunfähigkeit

Dies ist wichtig, da nicht jede medizinische Behandlungsbedürftigkeit auch automatisch zu einer Arbeitsunfähigkeit führt (siehe Indiz Nummer sechs). Beispielsweise kann ein Arbeitnehmer bei einer leichten Form von Heuschnupfen durchaus noch arbeiten. Und bei einem Zehenbruch kann ein Bürojob meist auch ausgeführt werden, wohingegen dies auf dem Bau nicht möglich ist.
Aus diesem Grund lohnt es sich im Zweifelsfall beim Arzt nachzufragen, da Ärzte zum Teil gar nicht wissen, was jemand arbeitet und ob die Person wirklich arbeitsunfähig ist.

Wichtig: Dauer der Absenz

Wichtig ist gemäss Hugentobler zudem auf die Dauer der Absenz zu achten:
In den meisten Personalreglementen wird eine Frist von drei oder vier Tagen ausgewiesen, während der kein Arztzeugnis eingereicht werden muss. Im Klartext heisst dies, dass dem Arbeitnehmer die ersten vier Tage ein Vertrauensbonus entgegengebracht wird, was jedoch im Umkehrschluss bedeutet, dass länger rückdatierten Arztzeugnissen nicht automatisch geglaubt werden muss. Wenn sich Vorfälle – zum Beispiel Montagsabwesenheiten – häuften, rät Hugentobler, die Anforderung künftig zu ändern und festzulegen, dass das Arztzeugnis bereits am ersten Tag abzugeben sei.
Laut Hugentobler haben die Schreiner dies in ihrem Gesamtarbeitsvertrag clever gelöst. Dort halten sie fest, dass ein Arbeitnehmer an seinem ersten Krankheitstag keinen Lohn bekommt.
Da gebe es sicherlich sehr viel weniger Montagskranke als in anderen Branchen…

Verlängerungszeugnis und zeitnahe Abgabe des Arztzeugnisses

Als weiteren Praxistipp gibt Hugentobler mit, dass auch wenn auf einem Arztzeugnis stehe, die Krankheit bestehe «bis auf weiteres», dies keine Freikarte für den kranken Arbeitnehmer sei. Nach jedem Monat sollte ein neues Arztzeugnis oder ein Verlängerungszeugnis eingereicht werden.
Weiter ist es wichtig, dass der Arbeitnehmer das Arztzeugnis zeitnah einreicht. Geschieht dies beispielsweise entgegen den vertraglichen Verpflichtungen rückwirkend ausgestellt erst nach 14 Tagen, ist das Unternehmen oft nur verpflichtet, die ersten vier Tage zu bezahlen (beziehungsweise, die im Personalreglement vereinbarte Dauer), die anderen zehn Tage muss der Arbeitnehmer selber tragen.
Der Arbeitnehmer untersteht zudem im Bereich Krankheit immer einer Bringschuld. Falls sich irgendetwas ändert, ist er verpflichtet, seinen Arbeitgeber über die Änderung zu informieren.

Gute Dispositiv-Vorlage im Personalreglement

Ab dem 3. Krankheits- oder Unfalltag ist der vorgesetzten Stelle durch ärztliches Zeugnis die angezeigte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, auf Verlangen ab dem 1. Krankheits- oder Unfalltag. Aus dem Arztzeugnis müssen Beginn, Umfang und voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit sowie der Behandlungsbeginn ersichtlich sein. Wird im Arztzeugnis der Beginn der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag rückdatiert, gilt der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht als erbracht.

Die Mitarbeitenden haben dem Unternehmen unaufgefordert und unverzüglich jede Veränderung ihrer Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen und ein entsprechendes Arztzeugnis beizubringen.

Damit die Betreuung, Begleitung und Unterstützung des Mitarbeitenden während einer Arbeitsverhinderung gewährleistet und frühzeitig die notwendigen Massnahmen für eine Wiedereingliederung getroffen werden können, haben sich die Mitarbeitenden bei Absenzen, die länger als 2 Wochen dauern, darüber hinaus alle 14 Tage bei ihrem Vorgesetzten zu melden und ihn über Stand und Prognose ihrer Arbeitsunfähigkeit zu informieren.

Das Unternehmen behält sich in jedem Fall eine vertrauensärztliche Untersuchung vor.

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