So können Lernende das eigene Potenzial ausschöpfen

Alexander Vitolić | 
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Prüfungsleiter Andreas Ehrat und Case Managerin Manuela De Ventura unterstützen Jugendliche während der Ausbildung. Bilder: Melanie Duchene

Leseschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS, Probleme zu Hause: Lernende mit kognitiven Beeinträchtigungen oder in Belastungssituationen haben in der Ausbildung ein zusätzliches «Päckchen» zu tragen. Im Sinne der Chancengleichheit gibt es für sie Unterstützungsangebote wie den Nachteilsausgleich oder das Case Management. Zwei Fachleute erklären.

Andreas Ehrat, Sie sind Prüfungsleiter und zugleich Verantwortlicher der Fachstelle Unterstützende Dienste der kantonalen Dienststelle Berufsbildung. Wann lohnt es sich, einen Nachteilsausgleich zu beantragen?

Andreas Ehrat: Sobald bei einer oder einem Jugendlichen eine Beeinträchtigung festgestellt wurde. Der Nachteilsausgleich (NTA) beinhaltet verschiedene Massnahmen, die es Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. Dazu benötigt es eine von einer Fachstelle anerkannte Diagnose. Eine Eigenschätzung reicht dazu nicht aus.

In den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Gesuche markant gestiegen.

Ehrat: Das stimmt. Die Anzahl der Gesuche für einen Nachteilsausgleich hat sich seit der Einführung 2016 kontinuierlich erhöht, damals waren es vier, 2023 werden es mehr als 50 sein, die wir bei der Dienststelle prüfen. Und wir gehen davon aus, dass die Zahl weiter steigt.

Es gibt kritische Stimmen, die etwa bei ADHS von einer Modediagnose sprechen.

Ehrat: Die Störung existiert schon lange, nur wird eine ADHS häufig nicht entdeckt. Es ist wichtig, dieser Art von Beeinträchtigung Akzeptanz zu verschaffen, damit die Jugendlichen, die davon betroffen sind, nicht aus dem System fallen. Der gleichberechtigte Zugang zu Bildung ist eine Voraussetzung für die gelungene Inklusion. Statistisch gesehen gibt es ja in jeder Klasse jemanden, die oder der davon betroffen ist.

Zu den Personen

Andreas Ehrat, Dipl. Pflegefachmann, Leiter Fachstelle Qualifikationsverfahren, Hobbys: Familie, Landwirtschaft

Manuela De Ventura, Sozialarbeiterin, Case Managerin. Hobbys: Volleyball und Theater.

Haben es die Betroffenen dann leichter?

Ehrat: Nein. Es geht um Chancengleichheit. Das Gesetz sagt ganz klar, dass die Lernziele von allen Lernenden erreicht werden müssen, die Ziele dürfen weder reduziert, noch erleichtert werden. Es geht, grob gesagt, um das Setting, das geändert wird: veränderte Pausenregelungen oder Hilfsmittel wie Hörschutz, Lesehilfen während des Qualifikationsverfahrens.

Manuela De Ventura, Sie arbeiten bei der kantonalen Dienststelle Berufsbildung als Case Managerin. Auch dort haben Sie mit Jugendlichen zu tun, welche in der Ausbildung speziell gefordert sind. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Tätigkeitsfeld?

Manuela De Ventura: Das Case Management richtet sich an Personen zwischen 13 und 25 Jahre, die mehrere psychosoziale Belastungen haben, beispielsweise psychische Schwierigkeiten, familiäre Belastungen oder ein abweichendes Sozialverhalten. Für die Betroffenen ist die Berufsbildung besonders herausfordernd. Mittels Coaching und Beratung begleiten wir die Jugendlichen durch die Ausbildung. Wir analysieren den Ist-Zustand und planen zusammen mit den Lernenden und dem Umfeld – Betriebe, Schule, Familie, Fachstellen – unterstützende Massnahmen. Ziel ist es, die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsabschluss zu erhöhen. Einige sind neben den sozialen und persönlichen Schwierigkeiten auch von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen. In diesen Fällen beantragen wir einen Nachteilsausgleich.

Auch hier ist die Nachfrage gestiegen.

De Ventura: Ja, im Moment begleiten wir 230 Jugendliche in einem Team von vier Mitarbeitenden. Und es kommen laufend Neuanmeldungen hinzu, die wir dann für die nächsten Jahre begleiten.

 

Wie erklären Sie sich das?

De Ventura: Die Gründe sind vielschichtig. Einerseits erachte ich die Lebensumstände der heutigen Jugendlichen schon als herausfordernder als noch vor einigen Jahren. Sie stehen schon sehr jung unter einem vielschichtigem Druck. Auch hat sich die Gesellschaft dahingehend entwickelt, dass der Integrationsgedanke gestärkt wird, was ich per se begrüsse. Dass dies aber eine Lücke öffnet, in die gewisse Jugendliche fallen, ist eine Folge davon. Zudem steigen die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Wo früher Arbeitgebende auch Plätze für Personen ohne Ausbildung anbieten konnten, beispielsweise als Hilfsarbeiter, ist das heute nicht mehr gängig.

Ehrat: Wir stellen fest, dass mit praktisch jeder Berufsreform mehr Inhalte in die Bildungspläne gepackt werden. Die Erhöhung der Komplexität und die Fülle an Stoff kommt schwächeren Lernenden nicht entgegen.

Fällt den Jugendlichen der Übergang von der Schule in die Berufsfachschule schwer?

Ehrat: Pädagogisch wird auf der Sekundarstufe 2 anders gearbeitet als auf der Stufe 1. Der Unterricht findet weniger häufig statt und es gibt weniger Unterstützung, auch deshalb ist es wichtig, sich so früh wie möglich mit einer möglichen Beeinträchtigung auseinanderzusetzen. So können bewährte Massnahmen aus der Stufe 1 in die Berufsschule mitgenommen werden. Darum ist es wichtig, dass der Nachteilsausgleich frühzeitig beantragt wird.

Rechtsgrundlage Nachteilsausgleich

Berufslernenden mit behinderungsbedingten Einschränkungen ist ein niederschwelliger Zugang, im Sinne der Bundesverfassung Art. 8.2 sowie der eidgenössischen Gesetzgebung, Art. 2 des Behindertengleichstellungsgesetzes, zu gewähren. Ebenso nimmt das Berufsbildungsgesetz in Artikel 3, 18 und 21 Bezug auf Menschen mit Behinderungen und verlangt, deren Benachteiligungen in den Angeboten der beruflichen Grundbildung zu beseitigen.

Glauben Sie denn, dass dieser Schritt für die «schwächeren» Lernenden mit einer gewissen Scham verbunden ist?

De Ventura: Das gibt es sicher. Oft ist der Übertritt in die Berufsschule vom Wunsch begleitet, neu anzufangen und sich neu zu erfinden: nicht mehr immer die zu sein, die alles vergisst oder sich nicht konzentrieren kann. Das kann ich persönlich absolut nachvollziehen. Langfristig gesehen halte ich das aber für keine gute Lösung, weil die Probleme in der Regel nicht von selbst verschwinden.

Ehrat: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann sich nicht einfach zusammenreissen, wenn ein tiefergehendes Problem vorliegt.

Muss man die eigene Problematik gegenüber dem Arbeitgeber offenlegen?

Ehrat: Wenn man einen Nachteilsausgleich bezieht, wissen die Ausbildner und die Lehrpersonen darüber Bescheid, weil sie entsprechende Massnahmen umsetzen müssen.

De Ventura: Grundsätzlich muss eine solche Problematik nicht offengelegt werden. Unsere Erfahrung zeigt, dass insbesondere die Lehrbetriebe sehr positiv reagieren, weil die Lernenden auf diese Weise zeigen, dass sie die eigene Situation reflektieren, daran arbeiten und somit gemeinsame Lösungen gefunden werden können.

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