Sie hat mit Ende 30 die Ausbildung zur Hebamme begonnen

Alexander Vitolić | 
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Sarah Trüllinger verfolgt ihren Wunsch, Hebamme zu werden, weiter, auch wenn es oft schwierig ist. Bild: Melanie Duchene

Als Erwachsene eine Lehre in Angriff zu nehmen, verlangt neben Disziplin auch sehr viel Ausdauer. Doch gerade in einer Branche, in der grosser Fachkräftemangel herrscht, wird die Bedeutung erwachsener Lernender zunehmen. Sarah Trüllinger ist so eine Erwachsene.

Wir feiern in dieser Beilage die Absolventinnen und Absolventen des Qualifikationsverfahrens 2023. Dass der Weg der Berufsbildung ein holpriger sein kann, wissen viele von ihnen nur zu gut. Auch wenn sie noch jung sind, haben sie die Erfahrung gemacht, dass es sich, wenn etwas für sie nicht stimmig ist, im Lehrbetrieb, beim Stoff, in der Praxis, lohnt und möglich ist, die eigene Entscheidung noch einmal zu überdenken und vielleicht doch einen anderen Weg auszuprobieren. Die Schweiz bietet ihnen – nicht nur ihnen – dank ihres einzigartig durchlässigen Bildungssystems sehr viele Möglichkeiten, ihrem Wunschziel immer ein wenig näher zu kommen.

Bei Sarah Trüllinger liegt der Fall ein wenig anders – und doch ähnlich. Wir haben die heute 43-Jährige im vergangenen Jahr in dieser Zeitung mit einem Porträt bedacht, als sie die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit mit Bravour bestanden hatte. Am Ziel ihrer Träume ist sie aber noch lange nicht.

Zuerst die Familie, dann die Karriere

Schon als kleines Mädchen wollte Sarah Trüllinger Hebamme werden. Mit 19 Jahren begann sie eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester in St. Gallen. Doch im ersten Lehrjahr folgte die Überraschung: Sie war schwanger mit ihrem ersten Sohn.

Der Wunsch, eine Familie zu gründen, bremste ihre beruflichen Ambitionen damit vorerst aus. Zwei und drei Jahre später brachte sie zwei weitere Kinder zur Welt. Eines davon, weil die Hebamme im Stau feststeckte, praktisch in Eigenregie. «Das müsste als Qualifikation eigentlich reichen», sagt Sarah Trüllinger, als sie daran zurückdenkt und lacht herzlich auf.

«Ich hatte fast den Eindruck, man wolle mir das ausreden.»

Sarah Trüllinger über das Aufnahmegespräch bei den Spitälern Schaffhausen

Sie hatte sich damals für das Mutterdasein entschlossen, während ihr Partner weiterhin die Lehre besuchte. Sie habe das nie bereut, betont sie. «Vielleicht, weil es mir von meinen Eltern so vorgelebt wurde. Es war eine sehr erfüllende Erfahrung, so viel Zeit mit den Kindern zu haben.» Sie hat selbst drei Geschwister, auf deren Unterstützung sie zählen konnte.

Abgehakt war ihre berufliche Laufbahn damit nicht, Sarah Trüllinger hatte damals einfach den Entschluss gefasst, sie nach der Familienzeit noch einmal in Angriff zu nehmen. Als die Kinder grösser wurden, meldete sich denn auch der Wunsch zurück, irgendwann jener beruflichen Tätigkeit nachgehen, die sie sich seit jeher erträumt hatte. «Es ging für mich auch darum, Unabhängigkeit zu erlangen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen», sagt sie heute. Sie wolle später keinen verpassten Chancen nachtrauern.

Noch einmal von Anfang an

Vor knapp vier Jahren dann nahm sie die Ausbildung als Fachfrau Gesundheit in einem Seniorenheim in Angriff; die Bedingung dafür war, dass die ganze Familie mithelfen musste, den Alltag zu bewältigen, wenn die Mutter nicht mehr ständig verfügbar war. «Wir haben einen Kochplan erstellt, an dem sich auch die Kinder beteiligten.» Selbst der Jüngste, damals noch ein Teenager, habe einmal in der Woche das Abendessen zubereitet: «Am Anfang gab es dann oft Toast Hawaii, wir haben ein bisschen nachgeholfen, aber es klappte schnell ganz gut.» Dass ein so junger Mann eine Familie bekochen könnte, sei heutzutage bestimmt eine gefragte Fähigkeit, fügt die stolze Mama scherzhaft an.

Der Einsatz zahlte sich aus. Im Sommer 2022 hält Sarah Trüllinger endlich ihr Lehrabschlusszeugnis in der Hand. Doch der Stress und die finanzielle Unsicherheit fordern ihrerseits einen Tribut. Körperliche Beschwerden machen sich bemerkbar, Long-Covid wird diagnostiziert. Sie braucht dringend eine Pause.

Durchatmen auf der Insel

Im November des letzten Jahres reist sie für zwei Monate nach Neuseeland, um sich zu erholen: «Es war eine fantastische Zeit.» Doch sie spürt, dass sie tiefgreifende Änderungen in ihrem Leben vornehmen muss, wenn sie ihren Traum verwirklichen will.

Die höhere Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau beginnt im Februar. Zwei Jahre dauert diese in der Erwachsenenbildung, je zweimal sechs Monate die Schulbank drücken und sechs Monate im Spital arbeiten, für 1800 Franken im Monat. Erst danach kann sie an die Hebammenschule.

Sarah Trüllinger ist überzeugt, dass man sie in einer Branche, die derart unter dem Fachkräftemangel leidet, mit offenen Armen empfangen würde. Doch schon das Vorstellungsgespräch zeigt ein anderes Bild: «Man äusserte Zweifel an meiner Fähigkeit, die Lehre auf verkürztem Weg zu absolvieren, da ich zuvor vor allem mit alten Menschen gearbeitet habe. Ich hatte fast den Eindruck, man wollte mir das Ganze ausreden.» Dass ihre Lebenserfahrung, ihr Wille und ihre Lernbereitschaft wenig zählten, empfindet sie als bedrückend, gerade bei einem Lohn, von dem man nicht leben könne: «Irgendwie habe ich das Gefühl, die Pflegeinitiative hier noch nicht so richtig angekommen ist.»

Im August geht es im Spital in die Praxis. Bis dahin muss Sarah Trüllinger noch ein paar Tage die Schulbank drücken. In der Klasse sei sie nicht die Älteste, «dennoch bin ich ein bisschen das Mami» – vielleicht weil sie die Geschirrtücher hin und wieder ersetze. Sie lebt mittlerweile mit ihrer Tochter in einer Wohngemeinschaft, in der sie sich die Miete teilen. Fürs Leben bleiben monatlich ein paar Hundert Franken, weil sie keinen Anspruch auf Stipendien hat, da ihre Eltern Eigentum besitzen. Trüllinger schüttelt den Kopf – fängt sich aber gleich wieder: «Das ist es wert. Wenn ich mit 25 drei Kinder hatte, werde ich eben mit bald 50 Hebamme sein – und nicht umgekehrt.»

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