«Das Sterben macht mich nicht traurig»

Iris Fontana | 
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Die Lebensqualität höher gewichten als die Lebensverlängerung. Archivbild: Roberta Fele

In unserer Jobwelten-Serie tauchen wir ein in besondere Berufe: Heute in denjenigen von Regula Salathé, die Sterbende auf ihrem letzten Weg begleitet. Im Interview mit dem Zahltag berichtet sie offen und schonungslos über ihre Arbeit, die so prall gefüllt ist mit Emotionen und Schicksalen, mit Leben und Tod.

Wann haben Sie das letzte Mal weinen müssen bei der Arbeit?

Regula Salathé: Das ist noch gar nicht so lange her. Der Grund war, dass jemand mit einer ganz schlimmen Situation konfrontiert war und sich nicht helfen lassen wollte. Da kam ich dann nach Hause und dachte: «Jetzt mag ich nicht mehr.» Ich kämpfe immer und wünsche mir, den Menschen Linderung zu verschaffen. Wenn sie sich dann jedoch aus lauter Sturheit oder weil sie kognitiv dazu nicht mehr in der Lage sind, der Hilfe verweigern, macht mir das echt zu schaffen. Daran verzweifelt man manchmal fast.

Sie kommen bei Ihrer Arbeit häufig mit dem Tod in Kontakt: Was macht das mit Ihnen?

Salathé: Das Schicksal berührt mich emotional, vor allem wenn ich die Not der Angehörigen erlebe, die diese Situation aushalten müssen. Mit dem Tod konfrontiert zu sein, zeigt mir die Endlichkeit des Seins auf, dass das Sterben zum Leben gehört. Es macht mich nicht traurig, sondern es macht mich dankbar für das, was ich jetzt habe und erleben kann. Es hilft mir, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Muss man ein Stehaufmännchen sein, um das aushalten zu können?

Salathé: Nein, aber selber auf einem guten Fundament stehen, damit man loslassen kann und den Boden unter den Füssen nicht verliert. Um einen versöhnten Umgang mit dem Sterben und dem Tod zu finden, muss ich Frieden auf den folgenden drei Ebenen erleben: Mit mir selbst, mit meinem Umfeld und mit Gott.

Wie grenzt man sich im privaten Leben ab?

Salathé: Ich kann mich nicht immer völlig abgrenzen. Um verarbeiten zu können, muss ich mit jemandem darüber sprechen. Falls ich in der Spitex keine Zeit und Möglichkeit dazu finde, suche ich das Gespräch in meinem privaten Umfeld.

Was finden Sie das Schönste an Ihrem Job?

Salathé: Dass man ganz beim Herzen des Klienten sein darf. Das ist wirklich ein Privileg. Man bekommt Zugang zum Heim, aber auch zur Familie - wie eine Art Gastrecht. Als Pflegende erhalte ich viel Vertrauen und Wertschätzung.

… und was das Schlimmste?

Salathé: Das Schwierigste ist für mich das ganze System, die Verantwortung, alle bürokratischen Schreibarbeiten.

Wie müssen wir uns Ihren Arbeitsalltag vorstellen?

Salathé: Ich arbeite 70 Prozent. Wenn ich Normaldienst habe, bin ich um 6.40 Uhr in unserem Stützpunkt in Neunkirch, konsultiere auf dem Tablet meinen Tagesplan und decke mich mit allem nötigen Material ein, spreche mich kurz ab und gehe dann ab 7 Uhr zu meinen Klienten. Eigentlich geht man alleine, mich begleiten jedoch oft Lernende oder Kolleginnen, um in meinem Fachbereich als Wundfachfrau Erfahrungen zu sammeln. An einem Morgen besuche ich rund sechs Klienten. Kurz vor Mittag kehre ich auf den Stützpunkt zurück, lade ab, richte alles für den nächsten Tag und bespreche mich kurz. Danach folgt noch ganz viel Nacharbeit im Büro, seien es E-Mails oder Telefonate mit Ärzten, Abklärungen mit der Krankenkasse und so weiter.

Regula Salathé

Regula Salathé

Die 56-jährige Regula Salathé stammt aus und lebt auch heute noch in Wilchingen. Die Mutter von drei erwachsenen Kindern absolvierte die Ausbildung Dipl. Pflegefachfrau HF sowie Weiterbildungen in Palliative Care (A2, B1) und als zertifizierte Wundmanagerin. Seit 2021 gehört sie dem Schaffhauser Kantonsrat an und wurde von ihrer Partei, der EVP, vor kurzem zur Kandidatin für die Nationalratswahlen nominiert.

Wie stressig ist Ihr Beruf?

Salathé: Es kommt auf den Dienst an. Unkomplizierte Kurzeinsätze wie Medikamente verabreichen oder Kompressionsstrümpfe anziehen, erlebe ich nicht als stressig. Treffe ich aber an einem Morgen verschiedentlich lange und komplexe Patientensituationen an, die mehr Zeit als eingeplant benötigen und ich mich dadurch immer weiter verspäte, kommt Stress auf. Eine Herausforderung für mich ist zudem, dass ich die Fachverantwortung meines Bereichs alleine tragen muss.

Ist der Fachkräftemangel ein grosses Thema?

Salathé: In der Spitex sind wir relativ gut aufgestellt. Wir haben ein gutes Klima, ein gutes Miteinander und wir haben weniger Druck sowie weniger Schichten, weil wir die Nacht nicht abdecken müssen. Am Wochenende arbeiten wir zudem mit weniger Personal.

Was passiert, wenn in der Nacht oder am Wochenende ein Notfall auftritt?

Salathé: Früher mussten wir in palliativen Situationen Nachtpikett machen, heute übernimmt das der Mobil Palliative Care Dienst (MPCD), über den wir übrigens in zwei Wochen abstimmen. Mit dem MPCD pflegen wir eine gute Zusammenarbeit. Bei nichtpalliativen Notfällen zwischen 22 und sieben Uhr muss weiterhin über 144 Hilfe angefordert werden.

Was war das Bewegendste, das Sie in Ihrem Joballtag erlebt haben?

Salathé: Bei einem Ehepaar, das ich auf dem ganzen Sterbensweg begleiten durfte, erlebte ich etwas sehr Bewegendes. Die Frau hatte einen Vers von Dietrich Bonhoeffer neben dem Bett aufgestellt: «Von guten Mächten». Als es dann zu Ende ging, fragte ich den Mann, ob ich ihr das Lied zum Vers singen solle, was er bejahte. Und während ich sang, durfte sie gehen.

Gibt es auch ein negatives Beispiel?

Salathé: Ja. Ich erinnere mich an einen Mann, der seine Frau nicht loslassen konnte, der sich in ihren letzten Augenblicken an ihren Arm klammerte und ihr immer wieder sagte: «Du darfst nicht gehen, lass mich nicht allein.» Damit setzte er seine Frau unter einen enormen Druck, loszulassen.

Erleben Sie oft, dass ältere Menschen niemanden mehr um sich haben und allein sterben müssen?

Salathé: Ja, ich erlebe Menschen, die ganz alleine sind. Der Sterbeprozess zuhause ist aber alleine schwer zu bewältigen. Darum suchen wir einen Weg für den Eintritt in ein Altersheim oder ins Hospiz, wenn es soweit ist und kein soziales Umfeld vorhanden ist. 

Erleben Sie auch viel Verwahrlosung bei Ihren Klienten?

Salathé: Das ist ein heikles Thema. Ja, wir treffen Verwahrlosung an, auch wenn ich nicht sagen würde, dass es stärker verbreitet ist als früher. Wir haben heute einfach einen anderen Standard. Es gibt auch Fälle, wo wir zusammen mit dem Hausarzt und der KESB nach einer gangbaren Lösung suchen müssen.

Wann ist aus Ihrer Sicht der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr die Heilung einer Person anstrebt, sondern ein gutes Sterben?

Salathé: Der Weg zu diesem Punkt ist oft ein langer Prozess, es braucht viele Gespräche mit dem Betroffenen und den Angehörigen. Wenn der Betroffene zu jedem Preis noch weitere Behandlungen in Anspruch nehmen will, dann ist es unsere Aufgabe, ihn in diesem Prozess zu unterstützen. Meine persönliche Meinung ist nicht gefragt. Unser Job ist es aber, die Sache immer wieder zu thematisieren, wenn dies aus gesundheitlichen und sozialen Gründen nötig ist. Uns ist dabei die Lebensqualität wichtiger als eine Lebensverlängerung. In diesem Zusammenhang gefällt mir das Zitat von Cicely Saunders, der Begründerin der Palliative Care: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.»

Was ist Ihr Antrieb?

Salathé: Ich glaube, dass mir diese Arbeit einfach im Blut liegt. Mich macht es glücklich, wenn ich anderen helfen kann.

Die Begleitung von Sterbenden ist für den Durchschnittsbürger eine eher aussergewöhnliche Arbeit. Ist das Ihr Traumjob?

Salathé: Die Begleitung von Sterbenden ist tatsächlich der Bereich, den ich in der Pflege am liebsten mache. Mir persönlich ist es ganz wichtig, dass wir als Gesellschaft wieder lernen, mit dem Tod umzugehen. Früher war dies selbstverständlich und jeder war in seinem Umfeld mit dem Tod konfrontiert. Heute sind wir in der Medizin so hochspezialisiert und haben das Sterben in einem gewissen Sinn delegiert. Als Gesellschaft sollten wir uns diesem Thema jedoch nicht verweigern: Genauso wie wir erste Hilfe lernen müssen, sollten wir uns auch um Kompetenz im Bereich letzte Hilfe bemühen.

Letzte-Hilfe-Kurs

Der Letzte-Hilfe-Kurs vermittelt Interessierten das Einmaleins der Sterbebegleitung: Welche wichtigsten Punkte sind zu beachten, wie läuft das Sterben ab, welche Medikamente werden verabreicht, was passiert, wenn jemand gestorben ist? Aber auch: Wie können wir wieder einen guten Umgang mit dem Thema finden und Trauernde hilfreich unterstützen? Im Klettgau bietet Regula Salathé den Kurs zusammen mit Marianne Näf, Pfarrerin in Gächlingen, an. Es gibt auch Kurse in Schaffhausen und Dörflingen.
www.ref-sh.ch/letzte-hilfe

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